Donnerstag, 1. Februar 2007

Deutsche und Türken trennten sich vor 28.000 Jahren

Die heutige Zuwanderung von Menschen aus Anatolien und dem Nahen und Mittleren Osten nach Mittel- und Nordeuropa macht eine populationsgenetische Trennung rückgängig, die grob 28.000 Jahre alt. Dies entnehme ich einer neuen Sequenzierungs-Studie am mitochondrialen Genom von über 500 heutigen Menschen des Kaukasus-Gebietes, die im November in "Molecular Biology and Evolution" erschienen ist. - Die oben gewählte Überschrift bezieht sich natürlich auf die rein genetischen Vorfahren von Türken und Deutschen. Diese Vorfahren waren natürlich vor 28.000 Jahren gar keine Türken und Deutschen, sondern Jäger und Sammler, deren Muttersprachen heute keiner mehr kennt.

Die genannte Studie hat erstmals genauer die mitochondrialen Genotypen (ihre Häufigkeiten in Populationen, ihre stammbaummäßigen Verwandtschaftsverhältnisse untereinander, sowie ihr Alter gemäß molekularer Uhr) in heutigen Populationen nördlich und südlich des Kaukasus unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse wurden mit schon bekannten Ergebnissen zu Populationen im übrigen Europa und Nahen Osten verglichen. Diese Studie wurde deshalb als so notwendig empfunden, weil ja anzunehmen ist, daß Europa während und/oder nach der Eiszeit (auch) von (Rückzugs-)Räumen nördlich und südlich des Kaukasus aus besiedelt worden ist. Und tatsächlich findet sich vor allem südlich des Kaukasus eine Vielfalt an mitochondrialen Genom-Typen und von einem Alter, wie sie als typisch angesehen werden kann für Ursprungsräume späterer Populations-Expansionen. Hier leben also - wenn man so will - noch heute Nachkommen von vergleichsweise "urtümlichen", "ursprünglichen" Bevölkerungen. (Dazu unten noch mehr.)

Ein Unterstamm der mitochondrialen Genom-Typen, der insbesondere für Europa kennzeichnend ist, wird von den Genetikern Haplogruppe H genannt. Während diese Haplogruppe in Europa grob von 40 % der Menschen im Genom getragen wird, wird sie im Nahen Osten, im Kaukasus und in Zentralasien nur von 10 bis 30 % der Menschen getragen. Diese Haplogruppe H ist durch die vorliegende Studie nun inzwischen in bis zu 21 Unter-Haplogruppen eingeteilt worden entsprechend der vorgefunden genomischen Vielfalt bei größerer Tiefenschärfe des Vergleichs.

Es stellt sich nun heraus, daß unter diesen die älteste heute noch vorfindbare Haplogruppe die Haplogruppe H13 ist. Sie ist offenbar eine der Haplogruppen mit der größten Typenvielfalt im Kaukasus und im Nahen Osten. Ihr Alter und ihre Ausbreitung wird von den Genetiker (aufgrund der molekularen Uhr) auf grob 28.000 Jahre zurück datiert. Dies ist die älteste in dieser Studie vorgefundene Haplogruppe.

Die Implikationen dieses Ergebnisses werden in der Studie gar nicht deutlich ausgesprochen, liegen aber doch auf der Hand: Der anatomisch moderne Mensch lebt in Europa schon seit 46.000 bis 41.000 Jahren wie nach neuesten archäologischen Datierungen festgestellt ist (und wie auch diese Studie eingangs festhält). Sollten sich also die Ergebnisse dieser Studie bestätigten, so würden sie aussagen, daß die frühesten Europäer, also jene, die die Neandertaler verdrängt haben und noch eine sehr geringe Bevölkerungsdichte und darum Populationsgröße aufgewiesen haben werden, heute als weitgehend ausgestorben angesehen werden müssen. Ein Teil des genetischen Erbes der heutigen Mittel- und Nordeuropäer würde dann von Zuwanderungen nach Europa abstammen, die 28.000 Jahre alt sind. Das ist immerhin ebenfalls noch VOR dem Höhepunkt der letzten Eiszeit gewesen. Dieser Höhepunkt wird englisch "last glacial maximum" (= LGM) genannt und auf 20.000 bis 17.000 v. Ztr. datiert. Ein weiterer Teil des genetischen Erbes der heutigen Mittel- und Nordeuropäer - ebenso wie der der heutigen Vorderorientalen - würde nach dieser Studie auf Populations-Expansionen beruhen, die erst NACH dem Höhepunkt der letzten Eiszeit stattgefunden haben. Es ist die Rede von einem Zeitrahmen von 16.000 bis 8.000 v. Ztr.. (Das wäre grob jene Zeit, in der auch Jäger den "ersten Tempel der Menschheit" am Göbekli Tepe in Anatolien errichtet haben. Die Studie wörtlich im Diskussionsteil (in Eigenübersetzung):
"Es sollte betont werden, daß für die Mehrheit der Haplogruppe H-Unterstämme das Signal für die Expansion in den Nahen Osten und den Kaukasus in einem Zeitrahmen zwischen 18.000 und 10.000 Jahren vor heute liegt. Dies mag nahelegen, daß diese Unterstämme nicht nur expandierten sondern tatsächlich auch erst zu einem viel späteren Zeitpunkt entstanden sind als die frühesten Zweige der Haplogruppe H. Der europäische Haplogruppe H-Genpool unterschiedet sich signifikant von dem im südlichen Kaukasus und dem Nahen Osten, weil unterschiedliche Unterhaplogruppen-Stämme NACH dem Höhepunkt der letzten Eiszeit in großen Gebieten expandierten. Besonders bedeutsam: Es scheint, daß es nach der ersten Wanderung von Trägern der Haplogruppe H nach Europa, was vermutlich schon vor oder während der (archäologischen) Gravettian-Periode geschehen ist, nur noch wenig nachfolgende Vermischung zwischen westasiatischen und europäischen H-Haplogruppen gegeben hat."
Mancherlei weitere gefundene Details sind von Interesse:

Die Haplogruppe H2a1 findet sich zu 12,5 % in Zentral- und Innerasien, während sie sich in Europa nur bei den östlichen Slawen (9 %), Esten (6 %) und Slowaken (2 %) findet. (S. 441) Dies deutet auf eine ursprünglichere Westausbreitung ostasiatischer Gentypen hin, die man auch schon in anderen Zusammenhängen fand. Auch gibt es mit der Häufigkeit der Haplogruppe 1 im Libanon eine Ähnlichkeit mit Europa, die sich sonst im Vorderen Orient nicht findet. (S. 441) Handelt es sich dabei um Reste von Zuwanderungen der "Seevölker" (1200 v. Ztr.) oder anderer europäischer Zuwanderungen? Anzeichen für solche historisch ja bekannten "Rückwanderungen" von Europa nach Süden werden von den Forschern auch bezüglich des Kaukasus diskutiert. (S. 445) Die Haplogruppen 20 und 21 finden sich fast nur am südöstlichen Ufer des Schwarzen Meeres und den Westhängen des Kaukasus, ein Gebiet, das während der Eiszeit ein sogenanntes "Wald-Refugium" (Rückzugsraum von ansonsten durch die Kälte in Europa ausgestorbenen Pflanzen- und Tierarten) darstellte. Die Forscher vermuten deshalb, daß die heutigen dortigen Bewohner sehr ursprüngliche und alte Populationen repräsentieren. (S. 445) Auch die arabische Halbinsel ist von einer Ursprungsregion grob südlich des Kaukasus offenbar erst spät besiedelt worden, wahrscheinlich wegen der dortigen Wüstenbildung. (S. 445)

Offene Fragen bleiben selbstverständlich viele oder werden erst ganz neu aufgeworfen. Natürlich werden die Untersuchungen von "ancient DNA" aus Knochenresten der ersten anatomisch modernen menschlichen Zuwanderer nach Europa vor 40.000 Jahren die hier präsentierten Ergebnisse entweder veri- oder falsifizieren können. Aber Aussterbe-Ereignisse menschlicher Populationen hat man neuerdings auch schon bezüglich der Bandkeramiker (der ersten Bauern Europas) und bezüglich der Etrukser vermutet. Wie auch das Literatur-Verzeichnis dieser Studie deutlich macht, ist das Wissen bezüglich all dieser Dinge in den letzten wenigen Jahren wieder stark gewachsen. Auch Rückzugsräume auf der iberischen Halbinsel sind schon genauer unter die Lupe genommen worden und Haplogruppe-H-Typen festgestellt worden, die insbesondere für nordeuropäische Populationen kennzeichnend sind (unter anderem Haplogruppen H1 bis H3).
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  1. Origin and Expansion of Haplogroup H, the Dominant Human Mitochondrial DNA Lineage in West Eurasia: The Near Eastern and Caucasian Perspective U Roostalu I Kutuev E-L Loogväli E Metspalu K Tambets M Reidla EK Khusnutdinova E Usanga T Kivisild R Villems Molecular Biology and Evolution, Volume 24, Issue 2, 1 February 2007, Pages 436–448, https://doi.org/10.1093/molbev/msl173 Published: 10 November 2006, https://academic.oup.com/mbe/article/24/2/436/1148196

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