Dienstag, 14. August 2007

Jugendbewegung, Bevölkerungswissenschaft und Drittes Reich

Das Beispiel Gerhard Mackenroth

Von der DFG (Deutsche Forschungs-Gemeinschaft) in einem Schwerpunktprogramm gefördert wird derzeit die Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft während des 20. Jahrhunderts sehr intensiv erforscht. (Bevölkerungsforschung TU Berlin) In früheren Beiträgen hatten wir schon auf den dabei entstandenen wichtigen Band "Bevölkerungswissenschaft im Werden" hingewiesen, in dem vor allem über den bedeutendsten deutschen Bevölkerungswissenschaftler Gerhard Mackenroth viel Neues zu erfahren gewesen war. (Studium generale 1, 2) Dieser unter einem unscheinbaren Titel erschienene Band war es vor allem gewesen, der hier auf dem Blog Anregung gab, das Thema Familienpolitik künftig grundlegender zu behandeln und anzugehen.

Nun ist aus diesem Schwerpunktprogramm heraus ein weiterer, sehr wichtiger Band erschienen. (1) Dies ist ein thematisch so umfangreicher und vielfältiger Band, daß an dieser Stelle nur einzelnes herausgegriffen werden kann. So vertieft Patrick Henßler in seinem Beitrag zu diesem Band seine Ausführungen über Gerhard Mackenroth im schon genannten vorherigen Band. Und der Gießener Historiker Jürgen Reulecke, der die Lebensreformbewegung nach 1900 erforscht, befaßt sich genauer mit Gerhard Mackenroths Schrift von 1933 "Deutschlands Jugend revoltiert". Reulecke schreibt (S. 226):
Henßler hat - in dem Band "Bevölkerungswissenschaft im Werden" - (...) zwar durchaus eine Reihe von zustimmenden Urteilen zum nationalsozialistischen Umbruch, aber auch Belege für eine anfänglich abwartende Distanz gefunden: Den "ganzen cäsarischen Kult um die Person des 'Führers' " hielt Mackenroth z.B. zunächst für "außerordentlich widrig" und hatte sogar ein Jahr vorher in einem Brief (...) Hitler als "dumm und eitel und begabt mit dem politischen Instinkt einer Kuh" charakterisiert. Den ganzen nationalistischen Rummel mit "Uniformen und Märschen und Hurrarufen" deutete er als nichts anderes als eine "Überkompensation einer tiefergehenden Unsicherheit".
Reulecke betrachtet im weiteren diese Schrift Mackenroth's, der selbst Angehöriger der Jugendbewegung war, als sehr geeignete Quelle zur Erforschung der Jugendbewegung und ihres Verhältnisses zum Nationalsozialismus, genauso wie ihm auch der persönliche Werdegang von Gerhard Mackenroth in dieser Beziehung als sehr exemplarisch erscheint. Hochspannend sind die abschließenden Worte von Reulecke's Beitrag (S. 230):
Abschließend, angestoßen durch Mackenroth's Beispiel, nur ein kurzer Hinweis auf eine verallgemeinerbare Beobachtung, welche sich auf das Personal der sich mit Volk, Rasse und Bevölkerung beschäftigenden Disziplinen jener Zeit bezieht: Es ist bemerkenswert, wie viele jüngere, d.h. seit 1890/1900 geborene Wissenschaftler der sich mit Problemen der Bevölkerung befassenden Wissenschaftszweige jugendbewegt geprägt gewesen sind: von Gunther Ipsen über Hans Harmsen, Hans Raupach, Ernst Rudolf Huber bis hin zu Werner Conze und Theodor Schieder. Mackenroth ist nur ein Beispiel unter vielen. Es wäre reizvoll, diese Verbindung etwas genauer zu analysieren. Zwei Einzelbeispiele aus den damaligen völkischen Bemühungen um das Grenz- und Auslandsdeutschtum bzw. die deutschen Sprachinseln im Ausland zeigen bereits exemplarisch, wie stark Denkimpulse aus der Jugendbewegung, hier aus dem Wandervogel, entsprechende Forschungen angeregt haben: bei dem Germanisten und Volkskundler Georg Schmidt-Rohr (1890 - 1945) und bei dem Volkskundler und Historiker Walter Kuhn (1903 - 1983).
Die Universität Mainz, an der ich (I.B.) studierte, besitzt den Buchnachlaß von Professor Walter Kuhn. Walter Kuhn behandelte als Schlesier die Siedlungsgeschichte vieler deutscher Minderheiten im osteuropäischen Raum, die er als jugendbewegter Mensch wie so viele damals (also wie offenbar auch Mackenroth) reisend und wandernd und Theater spielend besuchte und erforschte (Dialektforschung, Liedforschung, Siedlungsgeschichte u.a.m.). Zu diesen Minderheitengruppen zählten auch die Wolhynien-Deutschen, die aufgrund ihres ungeheuren Fleißes (bracchialische Rodungsarbeit in riesigen Sumpfgebieten) und zugleich ihres ungewöhnlichen Kinderreichtums sicherlich ein Modell früher seßhafter europäischer Bevölkerungen abgeben könnten (etwa der sicherlich von ähnlichem Pionier- und Rodungsgeist geprägten Gesellschaft der Bandkeramiker und ihres immensen, sehr schnellen Bevölkerungswachstums und ihrer Expansion vor knapp 8.000 Jahren vom Plattensee aus über ganz Mitteleuropa hinweg bis zur Kanalküste).

Wie viele von den Wolhynien-Deutschen übrigens während der September-Morde 1939 ums Leben gekommen sind, ist nach Kenntnis des Autors dieser Zeilen und seiner schon etwas intensiveren Nachforschungen, noch keineswegs wissenschaftlich geklärt. (Siehe auch meine Amazon-Rezension zu diesem Thema hier.) Dies insbesondere auch deshalb, weil das Gebiet (Wolhynien in "Ostpolen") 1939 ziemlich bald von den Sowjets besetzt worden ist und deshalb offizielle deutsche Untersuchungen dort nicht durchgeführt werden konnten.

Gerhard Mackenroth und negative Eugenik

Der Beitrag von Patrick Henßler schließlich arbeitet heraus, daß Mackenroth, der schon 1933 Mitglied der NSDAP geworden war (ähnlich wie - neuerdings dürfen wir auch das wissen ...: Erhard Eppler ...) in einer Vorlesung von 1941/42 sehr selbstverständlich die Meinung vertrat, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen der rassischen Zusammensetzung eines Volkes und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, bzw. überhaupt seines Wirtschaftssystems. (S. 215 - 221) Mackenroth sprach sich in diesem Zusammenhang auch für negative Eugenik aus, wie das viele damalige Wissenschaftler auch in den westlich-demokratischen Staaten taten. Dies beschränkte sich aber auch hier bei Mackenroth auf Sterilisierungen (unklar ob bloß empfohlene freiwillige oder auch erzwungene). Heßler weiter (S. 221):
Auch die von den Nationalsozialisten nicht gesetzlich geregelte "Tötung" bzw. "Vernichtung unwerten Lebens" wird von Mackenroth, wenn auch nur kurz, erörtert. Sie gilt ihm "als die radikalste und sicherste Form" des Vorgehens bei "der Ausschaltung von Blutströmen aus dem Innern des deutschen Volkes". Allerdings ist sie mit rassehygienischer Zielsetzung "in unserer aus christlichen Vorstellungen erwachsenen Sozialmoral noch nicht möglich" und "gesetzlich nicht statthaft".
Puh! Was sind das für Worte?! Vor allem das Wort "noch" in diesem Zusammenhang. Wer darf sich so sicher gefeit bezeichnen vor den Einflüssen des Zeitgeistes, wenn es selbst ein Mackenroth nicht war? Einmal mehr wird man darauf aufmerksam gemacht, wie leicht Menschen - wenigstens gedanklich - auf Abwege geraten können. Aber noch etwas Überraschendes ist zu erfahren:
Mackenroth setzte die Befürwortung einer negativen Eugenik (also wohl im wesentlichen Sterilisierung, I.B.) auch nach dem Ende des Dritten Reiches im Jahr 1945 fort. Sowohl in seiner "Bevölkerungslehre" aus dem Jahr 1953 als auch in einer unveröffentlichten Rezension zu Hans F.K. Günthers Buch "Gattenwahl zu ehelichem Glück und erblicher Ertüchtigung" verteidigte er die Maßnahmen einer negativen Eugenik als notwendig.
Nun, wie gesagt, es ist sicherlich nicht unwichtig zu erfahren, ob freiwillige Sterilisierung durch persönliche Einsicht erreicht werden sollte oder ob jeweils auch an staatlich verordnete Zwangssterlisierung gedacht wurde.

Gary S. Becker und die "Neue Haushaltsökonomie"

Ein weiterer Beitrag des Bandes - von Bernhard Nauck - beschäftigt sich dann mit gegenwärtigen familienpolitischen Debatten. (S. 321 - 331) Es wird vor allem auf die "Neue Haushaltsökonomie" des amerikanischen Nobelpreisträgers Gary S. Becker hingewiesen ("New Home Economics"), der wohl als erster prominenter Wirtschaftswissenschaftler die Familien selbst nicht nur als Konsumenten wirtschaftlicher Güter, sondern auch als Produzenten wirtschaftlicher Güter und Dienstleistungen begriffen hat (schon 1991!).

Ja, liebe Leute - und auch Herr Bernhard Nauck! Man sei nicht so zimperlich und denke diesen Gedanken konsequent zu Ende und man landet dann sehr schnell und zügig bei einem regulären Erziehungsgehalt für Eltern wie es seit Jahren die "Deutsche Familien-Partei" fordert, seit kurzem auch Christa Müller von der "Linkspartei" und andeutungsweise von der wissenschaftlichen Beratergruppe des Familienministerium (5. Familienbericht 1994, "Gerechtigkeit für Familien" 2002 u.a.) und neuerdings auch von dem familienpolitischen Autor Peter Mersch.

- Warum quälen sich eigentlich alle so viel damit herum? Das ist das Simpelste und das Selbstverständlichste und das Normalste von der ganzen Welt, ein solches zu fordern und einzuführen. Aber die heutigen Denkenden scheuen sich davor, wie Mackenroth das in seiner jugendbewegten Schrift von 1933 nannte, so scheint es: "ohne Pathos gefährlich zu leben". (S. 229) - Wie weit man das bei ihm selbst als eingelöst betrachten kann, bleibe an dieser Stelle sowieso dahingestellt. Aber: Was wäre denn daran heute - im Gegensatz zu seiner Zeit - - - noch gefährlich?

1. Ehmer, Josef; Ferdinand, Ursula; Reulecke, Jürgen (Hg.): Herausforderung Bevölkerung. Zu Entwicklungen des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem "Dritten Reich". VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007

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