Montag, 31. Dezember 2007

Die Themenfelder dieses Blogs - seine inhaltliche Gliederung im Überblick

Einen Überblick gewinnen bei über 600 Einträgen pro Jahr hier auf dem Blog? - Um das zumindest zu erleichtern soll hier der Versuch gemacht werden, eine grobe thematische Gliederung der behandelten Themen zu geben anhand der Schlagworte ("Labels", Kategorien), die auch in der rechten Seitenspalte - aber dort nur rein alphabetisch - angeordnet sind und dort aufgerufen und durchgeblättert werden können. Eine weitere Möglichkeit, sich über die Themengliederung zu informieren, besteht in Form unseres Bücherangebotes.

1. Themenfeld: Arbeitsteilige Gesellschaft und Verwandten-Altruismus

Dies ist das wichtigste Thema dieses Blogs. Die (wenigen) schwergewichtigsten Beiträge sind deshalb unter dem Schlagwort Arbeitsteilige Gesellschaft und Verwandten-Altruismus zu finden; dazu ergänzend und erläuternd: Altruismus, commitment, Boshaftigkeit, Soziobiologie, Gruppenselektion, Gruppenspsychologie, Prägung, Kulturpsychologie, Muttersprache, Sprachevolution, Nationalcharakter, Verwandtenerkennung, Kevin MacDonald, Eckart Voland, Edward O. Wilson, Robin Dunbar, Arbeitsteilige Gesellschaft, Agrargeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; schließlich: Evolutionäre Ästhetik, Evolution der Lebensphasen, Geschlechterpsychologie, Konrad Lorenz, Psychologie, Staatenbildende Insekten, Territorialverhalten, Verhaltensforschung, Dritte Kultur, Darwinischer Konservatismus

2. Themenfeld: Religiosität

Dies ist das zweitwichtigste Thema dieses Blogs. Schlagworte (Kategorien, "Labels"): Neue Religiosität, Evolution der Religiosität, Lebensreform, Alterstod, (Un)Sterblichkeit, Philosophie, Philosophie der Biologie, Philosophie der Kultur, Religiosität allgemein, Alte Religiosität (Monotheismus), Richard Dawkins, Säkularisierung, Ethik, Buddhismus, Feiergestaltung, Konversion, Täuschung und Selbsttäuschung, William Sargant, Thomas Metzinger

3. Themenfeld: Humangenetik

Auch dieses Themenfeld kann vollständig nicht ohne die beiden vorigen Themenfelder betrachtet und behandelt werden. Schlagworte: Jüngstselektierte Gene, Humanevolution, Humangenetik, Populationsgenetik, Menschenrassen, Aussterbe-Ereignis, Ethnogenese, Inzucht, Hautfarbe, Erbkrankheiten, Medizin, Verhaltenshormone, ADHS, Intelligenz, J. Philippe Rushton, Gregory Clark, Haplogruppen, Molekulare Uhr, ancient DNA

4. Themenfeld: Bevölkerungsentwicklung, Familienpolitik, Gesellschaftsreform

Und auch die weiteren Themenfelder stehen alle in engen Verflechtungen mit den vorigen und untereinander. Schlagworte: Kinder, Kinderpsychologie, Elternschaft, Daseinskompetenzen, Bevölkerungsentwicklung, Familienpolitik, Gesellschaftsreform, Umverteilung, Zorn und Stolz in Theorie und Praxis

5. Themenfeld: Weltgeschichte

Weltgeschichte, Archäologie, Jäger und Sammler, Eiszeitjäger, Neolithikum, Indoeuropäer, Bronzezeit, Antike, Frühmittelalter, Wikinger, Frühe Neuzeit

6. Weitere Themen

- Geographie, Völkerkunde, Afrika, Mittlerer Osten, Ostasien, Südasien, Amerika

- Physik, Weltall, Kristalle, Evolution, Simon Conway Morris, Konvergente Evolution, Artbildung, Ein- und Vielzeller, Vögel, Säugetiere, Buntbarsche, Physiologie

- Allgemeines, Scienceblogs, Kommunikation, akademisches Leben, Video, Kulturdigitalisierung, Kunst und Literatur, Musik, Schönheit in der Kultur, Schönheit in der Natur, Bedeutende Persönlichkeiten, Freiheit, Zeitgeschichte, Zeitgeschichte in Ton und Bild (Video's), Globalisierung, Gewalt und Krieg, GfbV, Public Relations-Industrie, Politik, Umweltschutz, Ostdeutschland vor 1945

Letzte Überarbeitung: 30.8.2008

Mittwoch, 26. Dezember 2007

"Samson" - Händels Oper macht traditionelle Gruppen- und Religionspsychologie nachvollziehbar

Zu Weihnachten kann man sich schenken lassen zum Beispiel eine vollständige CD-Aufnahme der Oper "Samson" von Georg Friedrich Händel (1685-1759) (Wiki), die im Jahr 1741 uraufgeführt wurde. Und damit kann man seine religionswissenschaftlichen und gruppenpsychologischen Studien erweitern.

G. F. Händel v. W. Hogharth (von Wiki Commons)

Diese Oper scheint sehr gut für letzteres geeignet zu sein. Geht es in ihr doch um den biblischen, israelitischen Helden Samson, der im Kampf für (seinen) Gott und für sein Volk schlimmste Leiden erfährt. Dabei werden Gott und Volk durchgängig als eine tiefe und selbstverständliche Einheit angesehen. Samson erleidet Gefangenschaft, Blindheit, Verspottung durch ein feindliches, siegreiches Volk, durch die Philister, die einen anderen Gott anbeten.

Und letzteres ist das Schlimmste: daß ein anderes Volk mit einem anderen Gott - und damit dieser Gott selbst - siegreich sind und bleiben sollen. Schließlich gibt Samson seinem Leiden und seinem Tod dadurch einen Sinn, daß er noch zahlreiche Feinde mit sich in seinen Tod hineinzieht und dadurch aus seinem Tod und Untergang ein Triumphlied, ein Siegeslied für seinen eigenen Gott und sein eigenes Volk gestaltet.

Man spürt sofort: Dieser Herr Händel und seine Zeitgenossen haben noch nie etwas von politischer Korrektheit gehört. Wahrscheinlich, nunja, führt eine gerade Linie von Händel zu Hitler. Ob das schon jemand gemerkt hat? (Google-Suche sagt: nein, erstaunlich wenige haben das bis heute gemerkt!)

Händel hat das genannte biblische Geschehen, das zu seiner Zeit ja noch ganz "naiv" gelesen und verstanden wurde (auch ohne jede verweichlichende "Metaphorik"), in eine Musik umgesetzt, die die Handlung und das Leiden des Helden - und das Mitgehen der mitfühlenden "Stammesbrüder", "Volks-" und Religionsgenossen (in Form der Frauen- und Männer-Chöre) - emotional nachvollziehbar macht, wie dies wohl selten später in ähnlicher dichter Weise geschehen ist.

Seine starken und stolzen Rhythmen, seine Sieges-Trompeten und -Gesänge, seine Klagegesänge ...

Aber eine erhöhte Bedeutung erhält all diese Musik erst, wenn man den Text ganz naiv parallel dazu liest und so ernst nimmt, wie er auch von allen Zeitgenossen Händel's und von diesem selbst ernst genommen wurde. Davon, daß Händel diesen Text ernst genommen hat, davon zeugt seine ganze Oper, die Musik von Anfang bis Ende.

Tod des Samson von Gustave Doré (1866)

Man erlebt das erschütternde Schicksal eines für seinen Gott und für sein Volk leidenden und schließlich triumphierenden Menschen. Eines Helden, von dem es abschließend heißt im Text (deutsche Übersetzung):

Glorreicher Held, mag nun dein Grab
Frieden und Ehre allzeit genießen;
nach all dem Leiden, all dem Weh
jetzt ewige Rast und süße Ruh!

Die Jungfrauen werden an Festtagen ihrerseits
sein Grab besuchen mit Blumen und dort beweinen
sein unglückliches Los bei seiner Gattenwahl. (...)

Mag jeder Held den Weg sich bahnen wie du,
durch Kummer zur Glückseligkeit. (...)

Kommt, kommt! Jetzt ist nicht die Zeit zum Klagen,
auch kein Grund zur Trauer: Samson wie Samson starb,
im Leben wie im Tod ein Held. Seinen Feinden
bleibt das Verderben; ihm der ewige Ruhm.

Laßt alle die Seraphim in glühendem Spektakel
die lauten, himmelwärts erhobenen Engelstrompeten blasen.
Laßt die Schar der Cherubime in sangesfreudigen Chören
ihre unsterblichen Harfen mit den goldenen Saiten zupfen.

"Let the bright Seraphim"

Dieser abschließende Absatz beginnt im englischen Original mit den Worten der berühmten Händel-Arie "Let the bright Seraphim", jener Sopran-Arie, die von einer Solo-Trompete begleitet wird und einer der emphatischsten Triumph- und Siegesgesänge der Menschheits- und Musikgeschichte darstellen wird. Bei Youtube findet man zahlreiche Aufnahmen dieser Arie. Die folgende erstgenannte, gesungen von einer Dänin 1993, ist die, die mir selbst am besten gefällt, aber auch die anderen haben ihre Qualitäten. (Youtube 1, 2, 3) Auch die Aufnahme eines Kinderchors ist sehr eindrucksvoll:




Auch die Arie "Total eclipse ..." ("Völlige Dunkelheit") aus dem 1. Akt, 2. Szene der Oper kann einen Eindruck von dem Geist der Oper und seines Helden insgesamt geben:




Samson besingt sein Leiden:

Völlige Dunkelheit! Keine Sonne, kein Mond,
alles finster im Mittagslicht!
O glorreiches Licht! Kein aufmunternder Strahl,
der mir die Augen erfreute mit dem willkommenen Tag!
Weshalb nur hieß Dein Ratschluß, daß ich so elend jetzt beraubt?
Nicht Sonne, Mond noch Sterne kann ich jemals sehen.

Oder die klagende, flammende Arie Samon's "Warum schläft der Gott Israels?" - "Why does the God of Israel sleeps?"




Etwas Aufrüttelnderes als diese Oper wird man selten zu hören bekommen. Georg Friedrich Händel hat diese Oper 1741 komponiert, kurz nachdem er den "Messias" vollendet hatte. Er leitete in den kommenden Jahren neun Aufführungen dieser Oper selbst. Diese riefen die volle Anerkennung im englischen Publikum hervor. Es war dies die Zeit, in der Friedrich II. von Preußen mit seinem ersten schlesischen Krieg begann.

Friedrich II. betrieb einen ähnlichen Heroen-Kult wie Händel. Dieser wurde dann vom deutschen "Sturm und Drang" und der deutschen Klassik, also von Schiller, Goethe, Hölderlin und ihren Zeitgenossen aufgenommen. Auch ein Dichter wie Klopstock muß berücksichtigt werden, wenn man diese "heroische" Zeit der mittel- und nordeuropäischen Geistes- und Kulturgeschichte verstehen will. Ohne sie sind die Französische Revolution und sind damit alle modernen abendländischen Errungenschaften nicht denkbar.

Und möglicherweise bedarf es auch eines ähnlichen Geistes, einer ähnlichen Emphase, einer ähnlichen Bereitschaft zum Leiden, eine ähnlichen Leidensfähigkeit, um den Fortbestand dieser Errungenschaften heute sicherzustellen.


(leicht ergänzt und überarbeitet: 4.11.16)

Angeborene ADHS-Neigung und angeborene Intelligenz

Wollte grade eine Antwort auf den letzten Kommentar von MichaS schreiben. Aber sie wurde so lang, daß ich jetzt einen eigenen Beitrag daraus mache.

Zunächst eine Übersicht über alle bisher auf Studium generale erschienen Beiträge zur ADHS-Genetik (hier). Und dann soll noch einmal der jüngste Kommentar von MichaS zu diesem Studium generale-Beitrag (vom Mai 2007) zitiert werde. MichaS - selbst ADHS-Betroffener - schreibt:
Hallo Ingo,

Zit.:"Dummerweise scheint man das einfachste von der Welt gar nicht gemacht zu haben, nämlich IQ-Tests."

Soweit ich weiß, stimmt folgendes:

Häufig korreliert ADHS (auch ohne Hyperaktivität) mit einem hohen bis sehr hohen IQ, der aber nicht immer zum Tragen kommt, bzw. gerade dazu "ausreicht", die Symptome zu kompensieren (z.B. auch um sozial mithalten zu können).

Es gibt sicher ADHS-"Schulversager" (Underachiever) mit einem IQ >130.

Zur Förderung überdurchschnittlich begabter ADS-ler gibt es auch eine Schule:
http://www.muensingerschule.de/c...index.php? id=19

P.S.: Ohnehin ist in diesem Artikel in erster Linie von hyperaktivem Verhalten die Rede und nicht von ADHS wenn ich das richtig verstehe. Hyperaktives Verhalten kann auf ADHS hinweisen oder auch nicht.
Meine Antwort: Der Plomin ist schon ein anerkannter, führender Forscher auf dem Gebiet der IQ- und Verhaltensgenetik, insofern kann man seine Ergebnisse nicht so einfach vom Tisch wischen.

Suche nach dem Original-Artikel

Wenn man in der Frage weiter kommen will, muß man sich über Google Scholar den Originalartikel organisieren (hier, hier). Der Titel des Aufsatzes wird danach sein: "Why Are Hyperactivity and Academic Achievement Related?" Hier die Originalzeitschrift "Child Development", die weltweit führende wissenschaftliche Zeitschrift auf ihrem Gebiet. Hier diverse weitere Pressemeldungen zu diesem Aufsatz. Hier nun der Abstract.

... Tja, und dann erfährt man nach vieler Suche nur wieder, daß unser "Open Acess"-System wieder einmal grottenschlecht funktioniert und der Aufsatz nicht öffentlich zugänglich ist. Also muß man zur nächsten Uni-Bibliothek pilgern - am besten mit Sticker, um sich den Aufsatz dort runterzuladen. (Falls nicht einer der Leser ihn grad schicken kann ...)

Interessiert hätten mich die sicherlich differenzierteren Argumentationen der Autoren auf jeden Fall. Studien, die diesen Aufsatz zitieren (überprüfen?) würden, scheint es auch noch nicht zu geben. Dafür ist es auch noch zu früh.

... Nicht gefunden, also selber überlegen ...

- Hm, also sagen wir einmal so. Aschkenasische Juden haben den durchschnittlich höchsten IQ weltweit (IQ = 115) und zugleich (wenn ich das richtig in Erinnerung habe) eine ADHS-Gen-Häufigkeit sehr ähnlich der bei Europäern. Chinesen haben den nächsthöheren durchschnittlichen IQ (IQ = 105), dagegen geht bei denen die ADHS-Gen-Häufigkeit gegen Null. Europäer haben den nächsthöheren (IQ = 100) - aber eine ähnliche ADHS-Häufigkeit wie bei den aschkenasische Juden. (Manche) Stämme amerikanischer Ureinwohner haben eine sehr hohe Häufigkeit von ADHS-Genen und grob einen niedrigeren durchschnittlichen IQ als Europäer (sagen wir grob 85). Buschleute haben einen sehr niedrigen durchschnittlichen IQ (56) und deren ADHS-Gen-Häufigkeit geht ähnlich wie bei den Chinesen gegen Null.

Was kann man daraus ablesen? Es gibt Gruppen (Völker) mit hohem IQ und höherer ADHS-Rate ebenso wie es Völker gibt mit hohem IQ und niedriger ADHS-Rate, ebeno wie es Völker gibt mit niedrigerem IQ und hoher ADHS-Rate, ebenso wie es Völker gibt mit niedrigem IQ und niedriger ADHS-Rate.

Von diesen Daten kann man ja eigentlich schon ablesen, daß die Beziehung zwischen IQ- und ADHS-Genetik keine sehr enge sein kann. Es stellt sich nun die Frage, welche Untersuchungsgruppe gewählt worden war. Europäer? Chinesen? Juden? Gemischt? Und wie weit das dann überhaupt auf die Gesamt-Menschheit verallgemeinerbar ist.

Man kann an diesen wenigen Daten jedenfalls schon sehen, daß die Psychologie von Völkern (und einzelnen Menschen?) sehr differenziert und sehr spezfisch sein kann und nicht allzu leicht "über einen Kamm geschert" werden kann. Interessant wäre tatsächlich zu erfahren, ob beispielsweise bei der Gruppe der aschkenasischen Juden, deren IQ über 130 liegt, die ADHS-Gen-Häufigkeit genauso groß ist wie in der Durchschnittsbevölkerung der aschkenasischen Juden. Und ebenso bei Chinesen oder Europäern.

Dienstag, 25. Dezember 2007

Ist Judentum nicht Heidentum?

Razib Khan macht sich Gedanken über ungebrochene heidnisch-religiöse Traditionen in Europa und bringt einige - eher abseitige - Beispiele dazu. (Gene Expression)

Mir kam da "ganz spontan" der Gedanke: Wie ist es denn eigentlich mit dem Judentum? Warum bezeichnen wir denn nicht auch das Judentum als eine ungebrochene heidnisch-religiöse Tradition in Europa? Ich würde sogar sagen, daß sie die lebendigste aller heidnisch-religiösen Traditionen ist. Es handelt sich bei der jüdischen Religion um eine Stammesreligion wie jede andere traditionell europäische, heidnische Religion auch.

Aber da schließt sich dann gleich die weitere Frage an: Warum besteht die Neigung, das Judentum als etwas anderes anzusehen als eine beliebige heidnische Religiosität, ja, warum gilt sie geradezu als Gegensatz zum Heidentum? Ich hatte dazu Michael Blume vor einigen Tagen einige weitergehende Fragen gestellt und bin gespannt auf die angekündigte Antwort. (Unter dem Titel "Inwiefern betrachten die Juden sich als von Gott besonders auserwählt?")

Das Judentum dürfte wohl eine der wenigen ungebrochenen "heidnischen" Religionen sein, für die das "Verbot von Götzendienst" und "Verbot von Gotteslästerung" ein viel wesentlicherer Bestandteil der Religion ist als für alle anderen bekannten heidnisch-religiösen Traditionen. Vielleicht kann man sie deshalb nicht so einfach in die übrigen ungebrochen-heidnisch-religiösen Traditionen in Europa einordnen.

(Ich weiß, im Mittelalter wurden die Juden von den Christen als "Heiden" angesehen. Wenn mich aber nicht alles täuscht, ist eine solche Sichtweise heute nicht mehr allzu gängig. Vielleicht wäre sie aber eine angemessene?)

Samstag, 22. Dezember 2007

Eine Meldung aus unserer Buchhandlung ...

Eine Nachricht von unserer neu gegründeten Buchhandlung:

Im letzten Quartal (seit Oktober) hatten wir dort einen Gesamtumsatz von 170 Euro.

Wir danken allen Käufern und möchten anregen, auch jetzt noch dort die letzten Weihnachts-Einkäufe zu tätigen. Wenn Ihnen bisher nichts eingefallen ist, wird Ihnen dort sicherlich so manche neue Idee kommen.

Auf Vorschlag können wir dort auch innerhalb von Stunden neue Artikel aller Sparten einstellen.

Dort getätigte Käufe sind für uns ein wertvoller Zuverdienst, der sonst Amazon selbst zugute käme. Und wir machen ja auf unserem Blog vielfältig Werbung für die in der Buchhandlung angebotene Literatur. Es ist also nur gerecht, wenn Amazon seinen Verdienst mit denen teilt, die für seine Bücher werben.

Hingewiesen sei noch einmal darauf, daß in unserer Buchhandlung nicht nur wissenschaftliche Bücher angeboten werden, sondern auch Belletristik, Video's und Artikel für Familien und Kinder. Vorschläge vielfältiger Art für ein erweitertes Angebot werden auch für diese Bereiche immer gern entgegengenommen.

Das Kind in der Krippe ... in Bethlehem und anderswo ...

Rechtzeitig zum Weihnachtsfest, dem Fest der Kinder, meldet sich - endlich, endlich - die "Deutsche Psychoanalytische Vereinigung" zu Wort. Und zwar zum Thema Krippenbetreuung.

Der diesbezügliche FAZ-Artikel sei hier vollständig zitiert:

Verlust der Lebenssicherheit

von Heike Schmoll

Angesichts des Krippenausbaus hat die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung in den ersten drei Lebensjahren bekräftigt. Jeder Krippenwechsel oder Wechsel einer Tagesmutter werde vom Kind als Bindungsverlust wahrgenommen.
Nur wenn die außerfamiliäre Betreuung – seien es Krippe oder Tagesmutter – vom Kind als Teil der „familiären Einheit“ erfahren würden, könnten sie seine Entwicklung bereichern und bei der Ablösung von den Eltern eine Hilfe sein. Die Bindungsfähigkeit des Kindes bilde die Grundlage für sein Selbstwertgefühl und seine Fähigkeit, tragfähige Beziehungen aufzubauen.
Auch die emotionale und kognitive Entwicklung würden in der frühen Kindheit durch die Stabilität seiner Beziehungen gefördert, heißt es in dem Memorandum der Psychoanalytiker.
Seelische Überforderung durch eine Trennung
Plötzliche oder zu lange Trennungen von den Eltern in der frühen Kindheit bedeuteten einen bedrohlichen Verlust der Lebenssicherheit, auch weil Sprach- und Zeitverständnis des Kindes noch nicht weit genug entwickelt seien, um Verwirrung oder Angst mit Erklärungen zu mildern.
Die seelische Überforderung des Kindes durch eine Trennung, die sich in verzweifeltem Weinen, anhaltendem Schreien oder späterem resignierten Verstummen sowie Schlaf- und Ernährungsstörungen zeige, fordere besondere Zuwendung und Verständnis, um nicht zu einer innerseelischen Katastrophe zu werden. Pflegeleichte Kinder, die gegen die Trennung nicht protestierten, brauchten besondere Aufmerksamkeit, da ihre seelische Belastung zuweilen nicht erkannt werde.
Gefährdung der psychischen Gesundheit
Kinder könnten von der Betreuung außerhalb der Familie nur profitieren, wenn sie dort gute und dauerhafte Beziehungen entwickeln könnten. Alle Eltern, die sich zu Hause mit ihren Kindern überfordert oder isoliert fühlten, brauchten Unterstützung, gesellschaftliche Anerkennung und öffentliche Angebote für das Leben mit Kindern, heißt es in dem Memorandum.
Die deutsche Psychoanalytische Vereinigung verweist darauf, dass es entwicklungspsychologisch entscheidend ist, ob ein Kind mit einem Jahr, mit anderthalb oder mit zwei Jahren in eine außerfamiliäre Betreuung komme und wie viele Stunden sie täglich in Anspruch genommen werde. Je länger die tägliche Betreuung getrennt von den Eltern dauere, desto höhere Werte des Stresshormons Cortisol seien im kindlichen Organismus nachweisbar.
Dies erkläre den in Längsschnittstudien belegten Zusammenhang zwischen ganztägiger Dauer der außerfamiliären Betreuung und späterem aggressivem Verhalten in der Schule. Je jünger das Kind sei, je geringer sein Sprach- und Zeitverständnis, je kürzer die Eingewöhnungszeit in Begleitung der Eltern, je länger der tägliche Aufenthalt in der Krippe, je größer die Krippengruppe und je wechselhafter die Betreuungen, desto ernsthafter sei die mögliche Gefährdung seiner psychischen Gesundheit, wenden die Psychoanalytiker ein.
Fehlentwicklungen vorbeugen
Sie schlagen vor, jedes Kind individuell auf seine „Krippenreife“ hin zu beurteilen, um Traumatisierungen zu verhindern. Die Eltern kannten ihr Kind zwar am besten und erfassten seine „Krippenreife“ intuitiv, doch politische Forderungen nach möglichst früher Rückkehr der Mütter an den Arbeitsplatz verunsicherten intuitives Wissen und schürten eine unnötige ideologische Konkurrenz um ein „richtiges“ Frauenbild.
Für dringend erforderlich halten die Psychoanalytiker daher staatlich geförderte entwicklungspsychologische Forschungen und Langzeitstudien, die den geplanten Ausbau der Tagespflegeplätze und die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz unter den Dreijährigen aufmerksam begleiteten, um Fehlentwicklungen vorzubeugen.
Diesem Artikel muß eigentlich nichts mehr hinzugefügt werden.

Freitag, 21. Dezember 2007

Nachdenken über Altruismus (- 5. Teil)

Die Evolution des Altruismus als zeitlose Kernfrage der Philosophie

Das neue Buch des deutschen Astrophysikers Günther Hasinger "Das Schicksal des Universums - Eine Reise vom Anfang zum Ende" (1) läßt einen wieder neu über die Stellung des Menschen im Universum nachdenken - insbesondere natürlich auch des "altruistischen" Menschen. Denn der Mensch ist ja per se ein soziales und damit der Möglichkeit nach altruistisches Wesen. Und vielleicht ist es ja sogar irgend ein "Sinn" des Menschen innerhalb dieses Universums, altruistisch zu sein, Verantwortung im Sinne altruistischer Anliegen zu übernehmen? - - -

Jede Beschäftigung mit der modernen Physik macht auf's Neue bewußt, daß unser gewohntes rationales ("naturwissenschaftliches") Denken nicht ausreicht, die Wirklichkeit unserer Welt vollständig zu erfassen. Die Materie selbst und die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Universums sind prinzipiell durchdrungen von "nichtrationalen" Aspekten. Schon allein die räumliche Ausdehnung des Weltalls ist mit unserer menschlichen Vernunft, mit unserem rationalen menschlichen Denken nicht nachzuvollziehen, auch wenn wir Zahlen für diese Ausdehnung nennen können und uns dadurch eine "Ahnung" von der Größe des Weltalls - oder auch nur unserer eigenen Galaxie, der Milchstraße - verschaffen können.

In der Kulturgeschichte der Menschheit haben die Religionen und Philosophien schon immer eine Fülle von Deutungen für diese "nichtrationale" Seite der Wirklichkeit gegeben. Man denke etwa an den chinesischen Philosophen Laotse und sein rätselhaftes "Tao". Man denke an so viele andere Dichter, Philosophen und religiös Inspirierte. Dabei hat sich dann natürlich auch viel Aberglauben eingeschlichen, den zumeist erst die moderne Naturwissenschaft als solchen eindeutig hat abgrenzen können von gesichertem naturwissenschaftlichen Wissen. Dadurch ist es möglich geworden, daß es uns heute viel leichter fällt als Menschen früherer Jahrhunderte und Jahrtausende, Aberglaube und Unfug von dem naturgesetzlichen Vollzug im natürlichen und menschlichen Geschehen zu unterscheiden.

Der Blitz hat keine besondere Bedeutung, keinen besonderen Bezug zum Menschen mehr, sondern ist einfach ein Naturereignis, wie das Wetter überhaupt. Und so mit unzähligen anderen Dingen auch. Die Natur ist erbarmungslos und nimmt auf die Wünsche des Menschen gar keine Rücksicht, wie schon Hermann Hesse wußte (siehe früherer Beitrag hier auf dem Blog). Deshalb lehnen wir heute auch alle "abergläubischen" Sinndeutungen der Stellung des Menschen im Weltall ab. Um so eher aber wird uns eine Sinndeutung des Lebens des Menschen überzeugen, um so nahtloser sie in Übereinstimmung zu bringen ist mit dem gesicherten naturwissenschaftlichen Forschungsstand unserer Zeit.

Einheits-Erleben mit dem Weltall als "Lohn" für gute Taten?


Ich möchte im folgenden nun zunächst eher philosophisch oder philosophisch-psychologisch argumentieren, um auf einigen Wegen der Spekulation und Exploration möglicherweise stärker in die Nähe dessen zu gelangen, was das tiefere Wesen des menschlichen Altruismus eigentlich sein könnte und in welcher Beziehung es stehen könnte zur nichtrationalen Seite der Wirklichkeit im Weltall. Bzw.: Ob da überhaupt ein Bezug hergestellt werden kann. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat diesen Bezug in Form des menschlichen "Werterlebnisses" hervor gehoben, vor allem in seinem grundlegenden Buch "Der Abbau des Menschlichen".

Die Frage, die in mir auftauchte beim Lesen von Günther Hasinger (1) war: Könnte man sagen: Der Altruist (der "wahre" Altruist) wird "belohnt" durch das (nichtrationale) Einheits-Erlebnis mit dem Universum? (Dies würde dann ein "Werterlebnis" im Sinne von Konrad Lorenz sein.) Könnte dem Menschen dies Rechtfertigung und Genugtuung sein? Es könnte hier vom nichtrationalen Einheits-Erlebnis mit dem gesamten Universum die Rede sein etwa im Sinne der neuplatonischen Philosophen in der Antike und ihren Wiederbelebern in der neuzeitlichen Philosophie. Die Neuplatoniker haben sowohl von Seiten der Philosophen des deutschen Idealismus (Hegel und Schelling) wie auch von Seiten moderner Philosophen - etwa bei der philosophischen Deutung des anthropischen Prinzips (hier wäre unter anderem John Leslie zu nennen [2 - 4]) - Beachtung erfahren.

Der Altruist also wäre in diesem Sinne "belohnt" für seine Tat "durch" das neu erreichte Einheitsbewußtsein mit "Gott". Auch Giordano Bruno etwa lehrte ja eine solche Möglichkeit des Einheitserlebnisses mit dem gesamten Weltall. "Gott" oder "das Göttliche" wären hier also als die nichtrationale Seite des gesamten Weltalls gedeutet. (Also in keiner Weise als Person, sondern im Sinne Spinoza's oder Giordano Bruno's pantheistisch.) (Nebenbei: Der Altruist könnte sich auch "belohnt" fühlen durch das gemütvolle Erleben der Weihnacht.)

Einheitserleben verbunden mit Schmerz und Entsagung


Es wird sicherlich nicht leicht sein, das Einheitserlebnis mit dem Universum (im Sinne der Neuplatoniker) konsensbildend zu charakterisieren. Aber sein vielleicht deutlichstes Charakteristikum (zumindest heute, bzw. in der Neuzeit allgemein) könnte sein, daß es mit Schmerz, mit dem Gefühl der Entsagung, dem Gefühl menschlicher Bedeutungslosigkeit im Angesicht des Universums verbunden ist. Andererseits ist es vielleicht besonders geeignet, die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit zu wecken. Oder genauer: Um so wertvoller einem das Einheitserleben mit dem gesamten Universum wird, um so schmerzlicher tritt einem die Begrenztheit des eigenen menschlichen Lebens ins Bewußtsein. Etwa im Sinne von Erich Kästner's Jahreszeiten-Gedicht zum "Mai", dem "Mozart des Kalenders" (Auszug):
...

Melancholie und Freude sind wohl Schwestern.
Und aus den Zweigen fällt verblühter Schnee.
Mit jedem Pulsschlag wird aus Heute Gestern.
Auch Glück kann weh tun. Auch der Mai tut weh.

...
Der Egoist erstrebt schmerzfreie Glückserfüllung (die "hedonistische Tretmühle"), die im Extremfall das im Sinne der Neuplatoniker in der menschlichen Seele als Möglichkeit angelegte Einheitserleben mit dem Weltall gänzlich zum Verstummen bringen kann, da der damit verbundene Schmerz und das oft schmerzvolle, daraus entspringede Verantwortungsgefühl (im Sinne etwa von Hans Jonas) eher gemieden als gelebt werden könnte. - "Was ist Seele?" könnte der Hedonist dann als "letzter Mensch" im Sinne Nietzsche's fragen und - - - "blinzeln".

Das, was also das eigentlich Altruistische ist oder sein könnte am Verhalten des Altruisten, das ist, daß er Schmerz zuläßt, daß er Schmerz nicht ausweicht. Dadurch könnte er auch selbst mehr Empathie-Fähigkeit für alle Leidtragenden in der Welt entwickeln. - Daß man das "Einsenken des Göttlichen in die eigene Seele" durch ein solches Zulassen von Schmerz jedoch geradezu "erzwingen" könnte, wird ein neuplatonischer Philosoph sicherlich ebenso verneinen. Es besteht sicherlich keine streng kausale Verbindung zwischen moralisch gutem Verhalten und der Nähe zu Gott. Diese philosophische Einsicht der moralischen Freheit gegenüber Got hat schon den Kern der protestantischen Welthaltung ausgemacht, nämlich Luthers Gnadenlehre.

Es gibt ja auch keine allgemein-gültige ("rationale") Definition moralisch guten Verhaltens. Im Gegenteil, gesellschaftliche "Konventionen" auf diesem Gebiet neigen meist dazu, sich ziemlich bald von ursprünglich moralischem Verhalten im Sinne der nichtrationalen Seite der Wirklichkeit abzusperren, da sie eben in der Regel recht schnell erstarrt. Das "Undefinierbare" in diesem Bereich wird eben gerade eines der wichtigeren Wesenszüge dieses Bereiches sein, die ihn so wertvoll für den Menschen machen können.

Die Freiheit und Verantwortung des Menschen würde also darin bestehen, aus völlig freiem Entscheid und freier Verantwortung sich für das Gute oder Schlechte zu entscheiden - in jeder Minute des eigenen bewußt gelebten Lebens. Er hätte sich dann ständig darin zu bewähren.

Die Frage wäre dann weiterhin, durch welche evolutionspsychologischen und -biologischen Gesetzmäßigkeiten eine solche Form von Altruismus evolutionsstabil gehalten wurde und wird in der Evolution und in der Geschichte des Menschen. Es könnte ja sein, daß man durch eine solche philosophische oder religiöse "Himmelsguckerei" (?) die Rationalitäten genetischen Überlebens hier auf der Erde völlig aus den Augen verliert, und daß deshalb solche menschlichen Eigenschaften, Neigungen zu Altruismus leicht aussterben könnten. Diese Frage muß an anderer Stelle weiterverfolgt werden. Doch um die Bedeutung der Thematik noch stärker herauszuarbeiten die folgenden abschließenden Ausführungen.

John Leslie als Philosoph der universellen und menschlichen Güte


Die bis hierher getätigten Gedanken wären sicherlich sehr im Sinne des kanadischen Philosophen John Leslie, nach dessen neuplatonischer philosophischer Deutung das Weltall entstand, um dem Prinzip der Güte zur Verwirklichung zu verhelfen - und zwar: im menschlichen Leben hier auf dieser Erde (2, S. 13):
John Leslie hält für möglich, daß eine höhere Instanz, der Gott seines neuplatonischen Glaubens, die Parameter des Universums so ausgewählt hat, daß beobachtendes Leben entstehen mußte. Dieser Gott ist nicht als Person, sondern als Prinzip der Güte aufzufassen, das zur Verwirklichung drängt. Für Leslie stellt diese Verwirklichung eines Prinzips eine Möglichkeit dar, bei der man bei dem Versuch, die Natur zu verstehen, ankommen kann, von der man aber keinesfalls als Forderung ausgehen darf.
Insofern wäre die Evolution des Altruismus und daraus abgeleitet die Evolution derartiger neuplatonischer Religiosität das Ziel der Weltall-Entsteung und -Entwicklung ebenso gewesen wie das Ziel der Evolution auf dieser Erde. Gewaltige Perspektiven! Leslie würde sich darin treffen mit dem britischen Paläontologen Simon Conway Morris, dessen bedeutendes Buch über evolutionäre Konvergenzen den Untertitel trägt: "Inevitable Humans in a Lonely Universe".

Warum es nun ausgerechnet das Prinzip der Güte sein soll, ist philosophisch-rational nur schwer noch weiter zu hinterfragen. (John Leslie macht mir zu solchen Fragen viel zu weitschweifige Ausführungen, die mir von seiner Grundeinsicht eher abzulenken scheinen als zu ihr zurückzuführen). Nur durch eine einheitliche und in sich stimmige philosophische Erklärung aller Erscheinungen des Weltalls aus diesem Prinzip der Güte heraus scheint es, daß weitere Kriterien gegeben werden könnten, die diese philosophische Deutung der nichtrationale Seite der Wirklichkeit, konsensfähig machen könnte. - Aber wer möchte denn eigentlich nicht meinen, daß die Verwirklichung menschlicher Güte dem menschlichen Leben Sinn geben könnte?

"Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?"


Zu den geforderten philosophischen Erläuterungen müßte sicherlich hinzutreten, daß sich bewußt gelebte Güte nicht "determiniert", zwangsläufig verwirklichen kann, sondern daß ein Wesenszug menschlicher Güte die Freiheit ist, die Freiheit der Wahl, sich für gütiges Verhalten oder dagegen zu entscheiden. Dann käme man zu der Fragestellung: Wie hat die Evolution menschliche (moralische) Freiheit ermöglicht? Man wäre dann bei den grundlegenden Fragestellungen, die schon das "Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus", wohl 1796 oder 1797 verfaßt von Friedrich Hölderlin, aufgeworfen hat. Es fragte bezüglich einer angenommenen "Schöpfung aus dem Nichts", die auch die moderne Physik inzwischen - überraschenderweise - annimmt: "Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?" Diese Fragestellung ist also gestellt aus der Sicht der unterstellten neuplatonischen Gottheit selbst oder des "philosophischen Ichs", das sich hineinversetzt in die "Fragestellungen", die bei der Weltenschöpfung vorgelegen haben könnten!
... Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat –, so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewussten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts. – Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.

So, wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, dass die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne.
Die Philosophie von Hegel war ein erster philosophischer Entwurf, der dieses philosophische Programm zur Erfüllung zu bringen suchte. Der deutsche Philosophie-Historiker Dieter Henrich hat inzwischen zahlreiche andere philosophische Entwürfe herausgearbeitet, die ebenfalls in diesem "Ältesten Systemprogramm" wurzeln. Zu ihnen gehören vor allem die philosophischen Entwürfe von Friedrich Hölderlin, der die grundlegende Wende zum philosophischen Idealismus - nach Henrich - wohl nicht in der Weise mitgemacht hat, wie ihn seine Freunde Hegel und Schelling vollzogen haben. (Aufzeigbar unter anderem an Hölderlin's Text "Urteil und Sein".)

Insgesamt könnte also deutlich geworden sein: Man befindet sich mit der Frage nach der Evolution des menschlichen Altruismus in einem Kernbereich uralten abendländischen philosophischen Fragens. Das wird wohl von den modernen soziobiologischen Altruismus-Forschern noch viel zu wenig zur Kenntnis genommen und berücksichtigt.
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  1. Hasinger, Günther: Das Schicksal des Universums. Eine Reise vom Anfang zum Ende. Verlag C.H. Beck, München 2007
  2. Genz, Henning: War es ein Gott? Zufall, Notwendigkeit und Kreativität in der Entwicklung des Universums. Carl Hanser Verlag, Wien 2006
  3. Leslie, John: Universes. London 1996
  4. Leslie, John: Infinite Minds - A Philosophical Cosmology, Oxford 2001

Jade-Handel in Südostasien 2.500 Jahre lang von Taiwan aus

Zu Weihnachten leuchtet wieder so manches Frauenauge, wenn sie unter dem Weihnachtsbaum liegen: teure Ohrringe. Vor tausenden von Jahren wird es nicht anders gewesen sein ...
Um 500 v. Ztr., in einer Zeit, in der die Sogder (1) zusammen mit den Persern gegen Griechenland in den Krieg zogen, wobei es ihnen nicht gelang, die Griechen zu unterwerfen, und in späterer Zeit bis 500 n. Ztr., in der diese Sogder ein Handelsnetz von Byzanz - oder gar von den Wikinger-Städten der Ostsee - bis nach China und Korea spannten (2), in diesem Zeitraum spannte sich parallel ein Handelsnetz von Osttaiwan aus über die südostasiatische Inselwelt bis zu den Philippinen, bis an die Küsten Vietnams, Kambodscha's, Thailand's und Borneo's (3, 4). Dies kann der folgenden Karte (aus: 3) entnommen werden:

Gelbe Sterne darin markieren Fundorte von Jade-Ohrringen, deren Herkunft von Osttaiwan gerade wissenschaftlich bewiesen wurde (3), blaue Sterne Jade-Ohrringe, bei denen - aufgrund der Beschaffenheit des Materials - diese Herkunft vermutet wird. (Schwarze Punkte markieren Orte mit Jade-Objekten, die nicht aus Taiwan stammen.)

Die Bedeutung Südost-Taiwan's für die Geschichte

In früheren Jahrzehnten war von den Archäologen und Kulturhistorikern vermutet worden, daß der Ursprungsort für die Verbreitung der abgebildeten Jade-Ohrringe irgendwo am asiatischen Festland gelegen hätte. Auch von den Archäologen auf Taiwan selbst war dies angenommen worden. Wie man aber erst jüngst feststellte, stammen sehr viele Jade-Objekte von dem Ort Fengtian in Osttaiwan und haben eine spezifische Beschaffenheit, die sie von anderen Jade-Objekten unterscheiden: durchscheinendes Grün mit schwarzen Punkten im Material.

Beile, Armbänder und Ketten aus Jade sind ebenfalls auf Taiwan und den Philippinen gefunden worden. Sie wurden aber noch nicht mit exakten denselben Methoden auf ihre Herkunft hin untersucht wie die abgebildeten Jade-Ohrringe, die sehr zeitaufwendig und teuer in der Herstellung waren und deshalb wohl nur von Eliten benutzt worden sind. Das Alter dieser anderen Objekte reicht insgesamt bis 3.000 v. Ztr. zurück, ihre Herkunft von Osttaiwan wird ebenfalls als wahrscheinlich angesehen.

Man nimmt also an, daß die ersten neolithischen, austronesischen Siedler, die von Osttaiwan aus um 2.000 v. Ztr. zu den Philippinen übersetzten (nach Luzon) auch diese Objekte mitbrachten und die Handelskontakte zu ihrer Heimatregion dann über 2.500 Jahre hinweg aufrecht erhielten. Es waren ja diese Siedler, die sich dann über die ganze südost-asiatische Inselwelt ausbreiteten (zusammen mit ihren Haustieren und vielen anderen Kulturgütern) (5), und die in Auslegerbooten auch die waghalsigen Fahrten zur polynesischen Inselwelt unternahmen und dort siedelten.

Erstaunlich ist, daß dieses für die ganze pazifische Region so außerordentlich bedeutsame, austronesische Volk von Osttaiwan erst in den letzten Jahren - und zwar zunächst über genetische Studien, jetzt über diese Jade-Studien - in seiner geschichtlichen Bedeutung "wieder"-erkannt wurde. In Taiwan leben heute in großer Mehrheit "Han-Chinesen", die die Ureinwohner Taiwans, die Verwandten der damaligen neolithischen Siedler, durch Jahrhunderte lange Zuwanderung sehr weitgehend verdrängt haben.

Bislang ist - zumindest für eine breitere Öffentlichkeit - noch recht wenig über dieses vor-han-chinesische Volk in Osttaiwan bekannt, das zumindest die Rohstoffe für diese Ohrringe gewonnen hat und zum Teil wohl auch diese selbst produziert hat. All das spielte sich jedenfalls ab, bevor der indische religiöse, philosophische und architektonische Einfluß im späteren ersten Jahrtausend n. Ztr. in Südostasien spürbar geworden ist.
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1. siehe frühere Studium generale-Beiträge, Suchwort "Sogder"
2. Jäger, Ulf: Reiterkrieger zwischen Rheinland und Korea. 2006
3. Hung, Hsiao-Chun: Ancient jades map 3,000 years of prehistoric exchange in Southeast Asia. In: PNAS, 11.12.2007, Vol. 104, No. 50, S. 19745-19750
4. Sanderson, Katharine: Jade and language travelled together. Skilled jade craftsmen may have helped to spread the Austronesian languages. In: Nature, 19.11.07 (siehe auch Berliner Zeitung, Spektr. d. Wiss.)
5. siehe frühere Studium generale-Beiträge unter der Kategorie "Südasien"

Donnerstag, 20. Dezember 2007

Ein "Olympia des Nordens"? - Der Glauberg in Mittelhessen (460 v. Ztr.)

Vor 2.500 Jahren verehrten die Menschen in Hessen einen großen König und Heerführer, bzw. sicherlich einen "Friedensfürsten", der zu den Göttern emporgehoben wurde, den "Fürsten vom Glauberg". 

Abb.: Der Keltenfürste vom Glauberg

Ihm errichteten sie die früheste menschliche, steinerne Statue in diesem Raum. Aus dem Süden, dem Mittelmeer-Raum, war nach Hessen hin - zusammen mit Handelswaren und Geschirr - das Gerücht gedrungen, daß es dort Hellenen gäbe, die ihren Göttern steinerne Figuren in Menschengestalt errichteten (1, S. 219ff). Da wollte man gegebenenfalls irgendwann nicht mehr nachstehen. 

Wenn es den Menschen in Mitteleuropa anfangs auch "komisch", merkwürdig und sonderbar vorgekommen sein ma, Götter oder Heroen in Menschengestalt darzustellen.

Grimmig freilich mußte er dreinschauen, dieser Heros, sonst hätte man ihn womöglich nicht ernst genommen. Das süßliche Lächeln der Hellenen, das lag den Menschen nicht hier oben in den kalten Wäldern mit den langen Wintern damals nicht so sehr. Da kann man nur grimmig, nicht heiter in die Welt hinausschauen. Außerdem gab es damals unter den mitteleuropäichen Fürsten diese merkwürdige Mode, lederne "Blattkronen" zu tragen ... (2, S. 24).

Abb.: Eine lederne Blattkrone

Irgend etwas Merkwürdiges müssen die "Großkopferten" ja immer auf dem Kopf tragen, das sie von "gewöhnlichen" Leuten unterscheidet. Damals waren es diese merkwürdigen "großohrigen" Lederkappen. 

Natürlich, imponiert hat das die Menschen damals sicherlich, zumal die Fürsten im Westen am Rhein und im Süden im Odenwald (Heidelberg) ähnlich gekleidet waren.

Abb.: Fragment aus Heidelberg (1, S. 208)

Der Hutmacherdraht, der noch im 20. Jahrhundert verwendet wird, wurde auch im Grab dieses Fürsten gefunden. Überhaupt ist seine Statue eine sehr getreue Wiedergabe des Fürsten in voller Bewaffnung so, wie er auch begraben worden ist und wie er gelebt haben muß. Es ist schon etwas Besonderes, dieser prächtige symbolische, lederne Efeukranz.

Abb.: Rekonstruktion der Steinstele von Pfalzfeld, Hunsrück (1, S. 41)

Sehen diese Ohren denn nicht aus wie ein in Mützenform symbolisierter Efeu- oder Lorbeerkranz? Von den Hellenen mag man gehört haben, daß sie den Siegern in Olympia Lorbeerkränze um's Haupt wanden. In Mitteleuropa waren es Efeukränze.

Abb.: Fürstinnengrab Waldalgesheim, Kreis Mainz-Bingen (1, S. 304)
Bronzebleche eines Streitwagens (330. v. Ztr., entdeckt 1869)
Halbfiguren mit Blattkronen

Der Reichtum dieser "frühkeltischen" Fürsten und ihrer städtischen, bzw. vorstädtischen Gesellschaften in damaliger Zeit in ganz Süddeutschland und im Alpenraum beruhte zu einem nicht geringen Teil auf der Salzgewinnung und dem Salzhandel. Das meiste Salz wurde in damaliger Zeit nicht dazu verwendet, um dem Essen die richtige Prise zu geben, sondern um das Essen zu konservieren

Sicherlich ist auch der Fürst vom Glauberg in Mittelhessen, dessen Volksburg auf dem Glauberg in geographischer Nähe der Salz-Saline von Bad Nauheim liegt, ein "Salzfürst" gewesen. So darf man sich seine Burg vorstellen:

Abb.: Heuneburg, Donautal, rekonstruiert (1, S. 25)

Eine weiträumige, prächtige Prozessions-Straße wurde bei seinem Tod errichtet, ausgerichtet auf die astronomische Mond-Sonnenwende (Glauberg.de , Hess. Ferns. Febr. 2007):

Abordnungen aus viele Gauen, vom Rhein, aus dem Odenwald, von allen Stämmen ringsum, aus Thüringen, aus dem Hunsrück, befreudet oder unterworfen, mögen damals am Glauberg eingetroffen sein, mit oder ohne ihre jährlichen Geschenke, Tribut- und/oder Steuer-Zahlungen. Sie kamen, um den Tod dieses großen Fürsten zu betrauern. 

Am Fuße des Burgberges wurde ihm sei Hügelgrab aufgeschüttet. Und zu diesem hin wurde eine prächtige, astromonisch ausgerichtete, zehn Meter breite Prozessionsstraße angelegt, die zu beiden Seiten mit Wällen und Gräben begrenzt war. Nichts war zu teuer, um den Ruhm und Nachruhm dieses Fürsten und Heroen vor aller Welt und vor den Sternen, der Sonne und dem Mond zu manifestieren. Denn der Heros stand natürlich den Sternen nahe.

Natürlich trug er auch das typische goldene keltische Halsband der damaligen Zeit:

Ihr fernen Nachfahren rätselt herum - "Ahnen-, Heroen- oder Götterbildnisse? (...) vergöttlichte Ahnen oder Heroen" ...? (1). Dabei ist es doch längst klar, daß wir in unseren Fürsten das alles so mehr oder weniger zugleich sahen. Unser großer, erhabener Fürst war sicherlich auch selbst ein Kundiger der Sterne ...

So stand er oft da, vor seiner Burg und dachte sich ...: "... Samhain, Wintersonnenwende, Große Südliche Mondwende ..., oh, Ihr heiligen Götter!" Und schaute erhabenen Sinnes in die Landschaft hinaus, die er so liebte ...

Der Fürst wurde in einem großen "geweihten Bezirk" begraben, der mit Graben- und Wallanlagen abgegrenzt worden war von den profanen Ackerbau- und Weide-Gebieten ringsum. Hier war heiliger Bezirk, nur heilige Tiere, den Göttern gewidmet, durften hier grasen (1, S. 26):

"Mächtige Anlagen waren es auf jeden Fall, die im Wald erhaltenen Reste mit 20 m breiten und 5 m hohen Wällen und 15 - 20 m breiten Gräben bieten auch heute noch ein eindrucksvolles Bild." 

Es wird ein "Olympia des Nordens" an diesem Ort vermutet, eine solche Vermutung hätte ...

... durchaus einen ernsthaften Hintergrund. Denn angesichts des Stromes von Gütern aus dem Mittelmeerraum in das nordalpine keltische Gebiet, der verschiedentlich nachgewiesenen engen Verbindungen und der Übernahme von Sitten und Kunstformen weigern wir uns zu glauben, daß dieser Verkehr nur auf das Materielle beschränkt war und nicht ebenso geistige und religiöse Vorstellungen in den Norden ausstrahlten und übernommen wurden.
Insofern ist ein Vergleich mit antiken Heiligtümern und dem dortigen Geschehen naheliegend. Hier am Glauberg, am Ort eines Ahnengrabes, neben dem ein Bezirk eingerichtet war, den wir Heroon bezeichnen können, rechnen wir mit Leichenspielen und Wettkämpfen, aus denen zu Ehren der vergöttlichten Ahnen und schließlich eines Gottes oder der Götter Festspiele hervorgegangen sind.
An einem solchen Platz ist auch ein Orakel zu erwarten, und daß hier Versammlungen und Rechtsprechung stattfanden, ist sowieso wahrscheinlich. ...

Dieser unserer Landesarchäologe, Fritz-Rudolf Herrmann, führte an anderer Stelle ähnlich aus:

Nach unseren Vorstellungen könnte die Anlage am Glauberg das zentrale Heiligtum für dieses Herrschaftsgebiet gewesen sein. Und ich zögere nicht und immer weniger, das auch zu vergleichen mit den großen antiken Heiligtümern, die wir kennen. Am bekanntesten ist da Olympia. Das mag verwegen und sehr kühn klingen, aber auch dort ist die Entwicklung: das Ahnengrab, dann Festspiele zu Ehren dieses vergöttlichten Ahnen, die ich mir am Glauberg genauso vorstelle. Wir können nicht ausschließen, es ist sogar wahrscheinlich, daß sogar Orakel an diesem Ort gegeben wurden. (Deutschlandradio 2002)

Den Bezirk rund um den Glauberg hält er für ein großes Heiligtum und vermutet, daß auf der Prozessionsstraße und auf den anderen abgegrenzten Flächen um den Fürstengrabhügel "Leichenspiele" und Wettkämpfe wie in Olympia stattfanden. (Stuttg. Ztg. 2003)

Einer seiner späten Nachfahren, dem man diese schöne Religion genommen hatte, rief schon vor 200 Jahren dem Chattenlande zu:

Wo ist dein Delos, wo dein Olympia,
Daß wir uns alle finden am höchsten Fest? -
Doch wie errät der Sohn, was du den
Deinen, Unsterbliche, längst bereitest?

(Friedrich Hölderlin, Gesang des Deutschen)
__________________________
  1. Das Rätsel der Kelten vom Glauberg. Glaube, Mythos, Wirklichkeit. Katalog zur Ausstellung in Frankfurt am Main. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2002
  2. Herrmann, Fritz Rudolf: Glauberg - Olympia des Nordens oder unvollendete Stadtgründung? In: Biel, J.; Krausse, D. (Hg.): Frühkeltische Fürstensitze. Älteste Städte und Herrschaftszentren nördlich der Alpen? Internationaler Workshop zur keltischen Archäologie in Eberdingen-Hochdorf, 12. und 13.9.2003. Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg, Heft 51, Esslingen 2005, S. 18-27

Dienstag, 18. Dezember 2007

Nachdenken über Altruismus (- 4. Teil)

- Die Geschichte vom "verlorenen Sohn"

Für manchen Leser wird nicht recht klar sein, worauf dieses "Nachdenken über Altruismus - Thema und Variationen" eigentlich hinauslaufen soll. Vielleicht faßt man dieses Nachdenken tatsächlich zunächst auf wie ein musikalisches "Improvisieren", wie ein "Material-Sammeln" (sozusagen von "musikalischen Ideen"), aus dem man dann später - günstigstenfalls - eine Oper oder Sinfonie schreiben kann (wie gesagt: günstigstenfalls!).

Fangen wir diesmal so an: Vielleicht ist echter Altruismus heute kaum noch lebbar im Alltag. Wenn das stimmen sollte, wäre es verständlich, daß die Forscher derzeit vornehmlich nur die "Trivialform" des Altruismus, die soziale Gegenseitigkeit (Gerechtigkeit) in allen möglichen und unmöglichen Varianten und Aspekten erforschen und immer wieder neu erforschen. Da gibt es das berühmte "Gefangenen-Dilemma", die These vom "altruistischen Bestrafen" und so vieles andere mehr auf diesem Gebiet. Aber - wie mir scheint - gleich ganze Marmor-Steinbrüche von Forschungsmöglichkeiten was Alltags-Altruismus in arbeitsteiligen Gesellschaften betrifft, verbleiben dabei im Schatten gänzlicher Nichtbeachtung.

Daß man in seiner Selbstaufopferung für einen anderen Menschen oder für Prinzipien bis zum eigenen Tod geht oder bis in Annäherungen an denselben - all solche Dinge gehören heute jedenfalls nicht mehr zu den bevorzugten, vorherrschenden kulturellen Idealen. Mit Hedonismus jedenfalls hätte das ja auch sehr wenig zu tun. Daß aber im sozialen Zusammenhang auch heute noch zumindest "Annäherungen" an den Tod gelebt werden, kann man etwa an der Tatsache ablesen, daß eine Scheidung nach einer tief erfüllenden Ehe die Sterbewahrscheinlichkeit sehr deutlich erhöht und zur Lebensverkürzung beiträgt. Für Männer gilt dies noch mehr als für Frauen. Auch bei vielen Krankheiten und Depressionen geht die Forschung ja heute von sozialen Ursachen oder Mitverursachungen aus. Das heißt: Bestimmte soziale Lebensumstände, in die man gerät oder denen man nicht aus dem Weg geht, können - letztlich - töten.

Es geschieht vielleicht heute nicht mehr sehr oft, daß solche Erhöhungen von Sterbewahrscheinlichkeiten mit bewußt gelebtem Altruismus in Verbindung gebracht werden - zumindest subjektiv. Aber es könnte sinnvoll sein, auch bezüglich solchen sozialen Geschehens nach jeweiligen Altruismus-Anteilen im sozialen Verhalten zu fragen, die über reine Gegenseitigkeits-Prinzipien hinausgehen. (Also extrem "asymetrische" soziale Beziehungen wie es ja doch auch - oder vor allem - die Geschlechterbeziehungen darstellen.)

Über Menschen gut denken, auch dann, wenn es schwer fällt ....

Was könnte altruistisch sein? Daß man versucht, über Menschen gut zu denken, edel zu denken auch dann, wenn es schwer fällt? Über andere Menschen nicht nur und ständig in ihren Schwächen, ihren Abarten herumwühlen? Gibt es nicht ein Sprichwort, daß da sinngemäß lautet: Wie man einen Menschen ansieht, so ist er auch? Wie man die Welt ansieht, so ist sie auch? Ich möchte meinen, daß dies besonders für soziale Alltags-Zusammenhänge zutrifft. Und ich möchte meinen, daß das ein gewaltiger Schritt wäre, in echterer Weise altruistisch zu sein: daß ich versuche, von allem Schlechten, von allen schlechten Eigenschaften eines Mitmenschen, die ich auch beachten könnte, die mir auch bekannt sein könnten, zunächst abzusehen und zunächst einmal nur das Gute in ihm zu sehen, in ihm zu werten.

Ein solches Vorgehen setzt schon eine gewisse "Selbstlosigkeit" voraus. Denn in vielen Lebenssituationen ist es doch einfacher, im anderen Menschen erst einmal das Schlechtere vorauszusetzen, das Schlechtere zu sehen. Wenn man zunächst das Schlechtere voraussetzt, von vornherein mißtrauisch ist, dann kann man gewiß auch nicht mehr enttäuscht oder verletzt werden, sondern höchstens überrascht.

Manche Menschen sind mehr geneigt zum Guten als andere ...

Nun wird es sicher so sein, daß "über andere Menschen gut denken" manchen Menschen leichter fällt als anderen. Den "von Natur aus" fröhlichen, optimistischen, lebensoffenen Gemütern wird es leichter fallen, auch im anderen Menschen das Positive zu sehen, überhaupt die Welt im positiveren Licht zu sehen, als Menschen, denen von Natur aus das "Schwarzsehen", das Sehen von Negativem näher liegt.

Man könnte also behaupten: Manche Menschen sind leichter geneigt, dem Guten nachzustreben als andere. Und zwar könnte dies entweder aufgrund genetischer Veranlagung und/oder aufgrund von kulturellen Prägungen, positiven oder negativen Erfahrungen vor allem in der Kindheit, Jugendzeit und jüngerem Erwachsenenalter der Fall sein. Fast möchte man meinen, daß das Ersterlebnis von Geschlechtlichkeit (also die Art des Verlustes der "Jungfräulichkeit", die sicherlich einen seelischen Prägungsvorgang darstellt), viel damit zu tun haben könnte, wie man auch später auf das Leben sieht, wie man - zumal in intimeren Beziehungen - den anderen Menschen sieht. Negative, seelenlosere, "ernüchternde" Erfahrungen auf diesem Gebiet werden sich anders auf das Leben auswirken als positive, seelisch aufrüttelnde, lebensfroher machende.

Genetische oder schicksalsmäßige "Determiniertheit"?

Aber wie ist es nun: Selbst wenn es Menschen aufgrund von Schicksal und Vererbung leichter fallen sollte, als anderen, dem inneren Trieb, der inneren Neigung zum Guten zu folgen - wenn sie nun dabei durch ein Meer von Leid gehen - wer wird das dann noch gleichsetzen wollen mit banalem "Determinismus", banaler "Determiniertheit"? Wer wird das vor allem gleichsetzen wollen mit einer gelebten Geneigtheit zum Guten, die ohne jedes Leid auch gelebt und verwirklicht werden kann (- z.B. aufgrund glücklicher[er] Lebensumstände)?

Und dann erlebt man es doch immer wieder, daß Menschen, die sogar besonders geneigt und in einer jeweiligen Epoche besonders befähigt sind, dem Guten, Edlen nachzustreben, daß gerade sie auch besonders "befähigt" sind, aus dieser "offenbaren" oder sogenannten persönlichen "Determiniertheit" auszubrechen. Sie begehen mehr oder weniger bewußt - früher oder später vielleicht auch aus ihrer eigenen Sicht - eine schlechte, eine böse, bösartige Handlung, um ihrer "Determiniertheit", einer gewissen unausweichlichen Neigung (einer Begabung?) zum Guten, zum Edlen zu entgehen. Und natürlich "beweisen" sie dadurch sich und anderen klar und eindeutig, daß es 100%-ige "Determiniertheit" zum Guten nicht gibt. Und ähnliches wird auch für das Schlechte und die Neigung zum Schlechten gelten.

Menschen, die vielleicht vor 50 oder 80 Jahren gelebt haben, wäre als Beispiel eines solchen eben genannten Lebensschicksales sicher der früher viel gelesene Lebensroman von Bachvogel über "Friedemann Bach", den erstgeborenen Sohn von Johann Sebastian Bach, eingefallen. In diesem Roman wird der musikalisch hochbegabte Friedemann Bach als ein gescheiterter Künstler dargestellt, der schließlich seine hohe Begabung und sein hohes musikalisches Können dazu verwendet, um mit einer Zigeuner-Gruppe durch die Lande zu ziehen und Zigeneuner-Weisen in Wirtshäusern zu spielen. Ein sehr erschütternder Roman, der "irgendwie" "lebensecht" wirkt, selbst wenn die musikhistorische Forschung in späterer Zeit glaubt, aufzeigen zu können, daß dieser viel gelesene Roman das Lebensschicksal von Friedemann Bach nicht historisch zutreffend darstellen würde.

Aber: Wie steht es mit der Parabel vom "verlorenen Sohn"?

Auf jeden Fall könnte einen ein solcher Roman zur Besinnung bringen bezüglich dessen, mit welchem unendlichen Leid, mit welchen kulturellen Verlusten "echte", gelebte oder nicht gelebte Altruismen eigentlich zu tun haben könnten. Maler und Schriftsteller haben ähnliche Schicksale immer wieder auch im Bild der Parabel des "verlorenen Sohnes" zur Darstellung gebracht. Etwa Rainer Maria Rilke im berühmten Schlußabschnitt seines Werkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". ("Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. ...") Oder viele niederländische Maler, die ja den "verlorenen Sohn" in zwielichtigen Schenken zur Darstellung bringen. Auch etwa Luis Trenker hat einen Film gedreht über einen "verlorenen Sohn", der nach Amerika auswandert und erst ganz zum Schluß durch seine Rückbesinnung auf seine Heimat und die Brauchtümer seiner Heimat (Tirol) eines Besseren belehrt wird. Für mich jedenfalls ein erschütternder Film.

Auf jeden Fall: Die Parabel vom "verlorenen Sohn" ist ein bekannter Topos in der Kunst und Kultur, über den sich moderne Altruismus-Forscher auch mal ein bischen mehr Gedanken machen könnten, um alle Altruismus-Arten, die gelebt werden (oder wurden), auch wirklich einer wissenschaftlichen Beschreibung näher zu bringen und sie in das schon bestehende wissenschaftliche Theorie-Gebäude einzuordnen. Denn was in der Wissenschaft nicht theoretisch erfaßt wird, das wird oft auch oft vom allgemeinen Denken gar nicht mehr berücksichtigt - und umgekehrt. Es besteht ja da eine Wechselbeziehung. Aber beides wäre doch ganz besonders schade. Um mich vorsichtig auszudrücken. (Wäre vielleicht ein paralleler Topos für das weibliche Geschlecht das Thema "Jesus und die Ehebrecherin", die "gefallene" Tocher? Vielleicht.)

Besteht denn nicht auch die Möglichkeit, daß wir heute in irgend einer Weise alle "verlorene Söhne" sind? Oder "gefallene" Töchter? Merkwürdig auch, wie gerade merke, daß man "gefallen" noch schlimmer findet, als "verloren" ... All das jedenfalls wird man je nach eigenem innerem Maßstab und Weltbild, bzw. philosophischen Grundanschauungen verschieden beurteilen. Das oft allzu platte Denken in den Kategorien wie denen der "verlorenen Schafe Israels" muß dabei jedenfalls nicht in jedem Fall im Vordergrund stehen. Es ist durchaus nicht notwendig, sich wie ein Sektenpriester zu fühlen, wenn man versucht, sich auf die metaphysische und moralische Heimatlosigkeit des modernen Menschen zu besinnen ...

Montag, 17. Dezember 2007

"Besser" oder nur "erfolgreicher"? - Jüngste Humanevolution behandelt in der deutschen Presse

Unter der Kategorie "Jüngstselektierte Gene" haben wir hier auf dem Blog immer wieder das Thema behandelt, das durch den jüngsten PNAS-Aufsatz der Humangenetiker John Hawks, Eric Wang, Gregory Cochran, Henry Harpending und Robert Moysis unter dem Titel "Recent acceleration of human adaptive evolution" (pdf. - frei) weiterführende Behandlung erfahren hat. Erstmals hat dieses Thema nun viel Aufmerksamkeit nicht nur in der internationalen, sondern auch in der deutschen Presse gefunden. Sie behandelt auf breiterer Front jenen Paradigmenwechsel in der Biologie, der sich durch die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms, die im Jahr 2000 verkündet wurde, anbahnt.

Während die traditionelle Humangenetik und Verhaltensforschung (sogar Konrad Lorenz und seine Schule), ja, sogar noch die Soziobiologie in der Regel davon ausgegangen waren, daß sich die (Verhaltens-)Genetik des Menschen seit der Eiszeit, seit seiner Zeit als "Jäger und Sammler" kaum noch verändert hat - Schlagworte waren: "Der Eiszeitjäger in der Metro", "Menschen mit Steinzeitgehirn steuern Düsenjäger" etc. - bekommen wir durch die neue Humangenetik zu diesem Thema ganz andere Erkenntnisse. Sie erweisen sich mehr und mehr als Weltbild-verändernd.

Sicherlich hat sich auch Konrad Lorenz schon viele Gedanken über (auch genetische) "Domestikations-Erscheinungen" beim Menschen gemacht (Stichwort "Verhausschweinerung des Menschen"). Aber diese waren doch meistens noch recht spekulativ und im Grunde nur Andeutungen, Vermutungen. Durch die neue Humangenetik bekommen wir zu vielen Themen ganz konkrete Hinweise, Daten und Anhaltspunkte. Ich habe die Forschungs-Literatur dazu in meinem Buchmanuskript "200.000 Jahre Humanevolution" schon in einem ersten Schritt zusammengestellt. (Lulu.com) Aber schon in dieser, im letzten Jahr zusammen gestellten Themenübersicht mutet einem vieles heute, ein Jahr später wieder veraltet an.

Hier nun einige mir wesentlicher erscheinende Auszüge aus der deutschen Bericht-Erstattung zu dem Forschungsartikel. Für Menschen, die sich in die Thematik überhaupt erstmals einlesen wollen, wird es sich sicher lohnen, sich alle diese Texte auszudrucken und zu studieren. Fast in allen Artikeln wird der Humangenetiker Henry Harpending mit verschiedenen Äußerungen zitiert.

Florian Rötzer faßt in Telepolis (11.12.) (übernommen auch vom Humanistischen Pressedienst) unter dem Titel "Die menschliche Evolution hat sich beschleunigt" ganz gut mit folgenden Worten zusammen (Hervorhebung von mir, I.B.):
(...) Die Menschen sind also nicht, wie man bislang überwiegend annahm, seit 40.000 Jahren mehr oder weniger genetisch gleich geblieben, sondern haben sich nicht nur kulturell, sondern eben auch genetisch relativ schnell verändert - im Takt von Jahrhunderten. Zudem haben sich genetische Veränderungen in unterschiedlichen Gruppen unterschiedlich vollzogen, wodurch sich erst einmal die menschlichen Gruppen durch räumliche Trennung auf den unterschiedlichen Kontinenten genetisch weiter auseinander entwickelt haben. So mußten sich die Menschen an die neuen Bedingungen wie Kälte und andere Nahrung in Europa anpassen und haben etwa mit Veränderungen des Skeletts und der Hautpigmentierung reagiert. Die Ernäherung mit Milch hat bei Indoeuropäern zur Laktosetoleranz geführt, weswegen auch Erwachsene Milch verdauen können, was bei vielen Menschen in Asien oder Afrika nicht der Fall ist. Harpending glaubt, daß Indoeuropäer deswegen mehr 'Energie' gehabt und sich deswegen schnell ausbreiten konnten. Zahlreiche Seuchen sind durch das Zusammenleben mit Tieren aufgekommen, die von Kontinent zu Kontinent verschieden waren und neuen genetischen Druck erzeugt haben. (...)

"Die Gene haben sich schnell in Europa, Asien und Afrika verändert", sagt Harpending, "aber fast alle diese Veränderungen sind einzigartig in Bezug auf ihren Herkunftskontinent. Wir werden unähnlicher, verschmelzen nicht in eine einzige, gemischte Menschheit." (...)
Der Artikel von Gerd Pfitzenmaier in Focus (11.12.) hat bislang 1.100 (?!) Leser-Kommentaren hervorgerufen. Er zitiert unter dem Titel "Rasende Evolution: Heute Mensch, morgen Mutant" Henry Harpending mit den Worten:
"Die menschlichen Rassen entwickeln sich" (genetisch) "immer weiter auseinander."
In Bezug auf die Humanevolution in den letzten 10.000 Jahren wird gesprochen von ...
... wichtigen Veränderungen am Skelett und den Zähnen sowie viele genetische Antworten auf die Herausforderungen durch neuartige Ernährungsformen oder die Reaktion auf zuvor nicht gekannte Krankheiten.

Das Tempo des genetischen Fortschritts taxieren die US-Forscher auf "Zeitspannen von Jahrtausenden, ja sogar Jahrhunderten". (...)

"Unser Geschichtsbuch liest sich mehr und mehr wie eine Science-Fiction-Story", kommentiert Gregory Cochran seine Berechnungen, "in der es zunehmend von Mutanten wimmelt, die andere Menschen verdrängten." Manchmal geschah dies leise, weil sie Hungersnöten oder Krankheiten besser standhielten. Manchmal kriegerisch, weil sie sich als Eroberer durchsetzen konnten. Aber immer, weil sie mit dem "besseren" Erbgut ausgestattet waren. Cochran: "Und wir selbst sind ebenfalls solche Mutanten."
Zu ergänzen wäre sicherlich auch die große Bedeutung des Sklavenhandels in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden, der bekanntermaßen (und für andere Epochen vermutungsweise) ganze Menschengruppen verschoben hat. Es wird also deutlich: Man kann menschliche Geschichte nicht mehr erforschen, ohne auf die Genetik Rücksicht zu nehmen.

Das Wort "besseres Erbgut" bedürfte hier noch mancherlei Erläuterung, es ist ja hier "besser" auch schon in Anführungszeichen gesetzt. Die Regel wird wohl eher sein, daß jeweils ein evolutionär gut angepaßter Menschentyp durch einen anderen evolutionär gut angepaßten Menschentyp ersetzt worden ist. Zum Beispiel das genetische Verdrängen der Buschleute-ähnlichen Populationen südlich der Sahara durch die schwarzafrikanischen Bantu-Völker seit etwa 2000 Jahren. Wer möchte schon so einfach sagen, die eine Population hätte "besseres" Erbgut besessen als die andere? Welcher Maßstab sollte hier gelten? Die eine war zunächst erst einmal nur evolutionär und genetisch "erfolgreicher" als die andere. Erfolgreich muß nicht unbedingt "besser" sein. Das wird übrigens auch für künftige Humanevolution gelten, über die wir ja nun mit mehr Bewußtsein und wesentlich umfangreicherem Wissen nachdenken können, als das frühere Völker getan haben.

Nina Bublitz schreibt im Stern (12.12.) unter dem Titel "Genetik: Menschliche Evolution nimmt Fahrt auf" unter anderem:
"Gene verändern sich in Asien, Afrika, Europa - und die meisten dieser Veränderungen finden nur auf jeweils einem Kontinent statt," sagt Anthropologe Henry Harpending. "Deshalb entwicklen wir uns nicht zu einer Menschheit, sondern die Unterschiede werden größer."
Hier kommt man sicherlich derzeit noch zu unterschiedlichen Bewertungen. Während in weiten geographischen Bereichen auf der Erde in den letzten tausend Jahren vergleichsweise wenig neue Vermischung stattgefunden hat, wird man das z.B. für Südamerika ganz bestimmt nicht sagen können. Für andere geographische Bereiche ist dies derzeit noch nicht entschieden. Hanno Charisius schreibt in der Süddeutsche Zeitung (13.12.) unter dem Titel "Evolution auf der Überholspur":
"Mit unserer Methode können wir nichts bestimmen, was jünger als 2000 Jahre ist", sagt Harpending. (...) Hätte sich die Menschheit (in den letzten 2000 Jahren) im gleichen Tempo fortentwickelt, hätten sich aus verschiedenen Ethnien womöglich unterschiedliche Arten bilden können.
Dies ist ein interessanter Aspekt. Hier auf dem Blog wurde ja schon mehrfach darüber gesprochen, ob nicht vor allem Prägungs-Vorgänge wie die muttersprachliche Prägung "Artbildungs"- oder Pseudo-Artbildungs-Prozesse beim Menschen beschleunigen. Aber um echte genetische Fortpflanzungs-Schranken zu erreichen, würden die Selektionsprozesse wohl noch von ganz anderer Art sein müssen als in den letzten Jahrtausenden. Ich sehe derzeit auch keine Plausiblitätsgründe, weshalb durch "echte" vielfältige Artbildung der Menschheit ein Dienst erwiesen wäre. Es stellt ja das Humanum an sich dar, mit menschlicher Verschiedenheit umgehen zu können. Durch Artschranken würde diese Herausforderung beseitigt und damit vielleicht, wahrscheinlich ein wesentliches "Humanum" an sich. Wir wären also vielleicht gar nicht mehr "Menschen".

Thomas Kramar zitiert in Die Presse (11.12.) unter dem Titel "Genetik: Unsere Evolution ist nicht vorbei" ebenfalls Henry Harpending:
(...) "Wir müssen den genetischen Wandel verstehen, um Geschichte zu verstehen. Wir sind nicht die gleichen Menschen wie vor 2000 Jahren." Das könne z. B. den Unterschied zwischen den Wikingern und ihren friedlichen schwedischen Nachfahren erklären: "Laut herrschendem Dogma beruht er auf kulturellen Flukturationen, aber bei fast jeder Charaktereigenschaft findet man starke genetische Einflüsse." Das steht so nicht in der Publikation, das sagt Harpending nur im Interview.
Hier deutet sich also die Möglichkeit an, daß auch die Einführung des Christentums - z.B. - in Skandinavien (und sonstwo) neue Selektionsprozesse in Gang gesetzt hat. Natürlich unterscheidet sich ja sicherlich die kriegerische Moral der Wikinger und Germanen sehr deutlich von der - zumindest binnen-gesellschaftlich - oft friedfertigeren Moral christlicher Gesellschaften. Es könnte sich dann ja bspw. auch um genetische Selektionsprozesse gehandelt haben, die etwa schon etwa Friedrich Nietzsche vorausgesetzt hat bei seiner Kritik des Christentums.

Hier noch weitere deutsche Presse-Artikel (die englischsprachigen Diskussionen, unter anderem bei "Gene Expression" wären einen eigenen Beitrag wert):
- "Anthropologe: Evolution des Menschen beschleunigt sich" ("RME" in Ärtzteblatt, 11.12.)
- "Wie werden immer unterschiedlicher: Genetischer Wandel beschleunigt sich" (Klaus Taschwer in Der Standard, 10.12.)
- "Menschwerdung: Seßhaftigkeit beschleunigte Evolution" (Silvia von der Weiden in Welt, 10.12., gekürzt in Berliner Morgenpost)
- ( Spektrum der Wissenschaft, 12.12.)
Die deutsche Blogszene reagiert offenbar sehr langsam. (aber: Historiker Volker Lange)

Sonntag, 16. Dezember 2007

Das subversive Lächeln in christlichen Kirchen

Wenn man immer wieder salbungsvolle christliche Sonntagsandachten im Radio zu hören kriegt, fragt man sich, wie eigentlich die Menschen in früheren Jahrhunderten auf all dieses "Salbungsvolle", Unechte, Gemachte reagiert haben. Was findet man zum Beispiel, wenn man in der Google-Bildersuche nach Anschauungs-Material für die folgenden Gedichtzeilen sucht:
Diethelm Trausenit

(1349)

Diethelm Trausenit, warum bot
bei Sankt Stephan dir niemand Dach und Gelaß?
Sie scheun wohl in deiner Zunge den Spott,
in deinen Augen den Haß.

Die Heiligen, die dein Meißel weckt,
die tragen dein eigen unheilig Gesicht.
Sie stehen steif, sie lächeln versteckt:
aber fromm sind sie nicht.

(...)

(Josef Weinheber)

Die Lächelnde Madonna von Lauter (um 1260 n. Ztr.) (südliche Rhön)

"... aber fromm sind sie nicht." - Man meint doch, solche christlichen "Heiligen"-Figuren zu kennen. Aber im Netz sind sie gar nicht so leicht zu finden. Das könnte einen überhaupt auf das Thema "Lächeln und subversives Grinsen in der Kunst" bringen. Wie steht es da zum Beispiel mit dem Lächeln der vorklassischen, griechischen Skulpturen, dem "heiteren" (?) "ionischen"? Und mit so vielem anderen Lächeln und Grinsen auf diesem Gebiet? Hier jedenfalls noch zwei weitere Netz-Funde:

Naumburger Stifterfiguren
Man beachte vor allem die grinsende "Reglindis" ganz rechts

Abgesehen davon, ob wir uns heute "Erlöste" oder "Heilige" oder vorbildlich "Gläubige" so vorstellen wie in diesen Bildern noch einmal die Frage: Darf man in christlichen Gottesdiensten heute nicht mehr so subversiv grinsen wie es doch sogar die in den Kirchen stehenden Figuren selbst tun? - - -

Man möchte meinen, wer religiöse Gemeinsamkeit mit anderen Menschen sucht, sollte ihnen mitunter auch zu erkennen geben, wenn er das Gefühl hat, daß er diese gerade in diesem Augenblick nicht empfindet und sieht. Waren die mittelalterlichen Menschen, Künstler da bewußter oder unbewußter ehrlicher als wir heute? Wir haben alles fein säuberlich getrennt: Auf der einen Seite der ernste Gottesdienst und die salbungsvollen (Radio-)Morgenandachten. Und auf der anderen Seite die Talkshow. Und beide haben nichts miteinander zu tun. Vielleicht liegt da überhaupt das ganzes Problem? ...

"Erlöste" - Fürstenportal Bamberger Dom

Freitag, 14. Dezember 2007

Gruppenrechte und Genetik

Die genetischen Forschungen der letzten Jahre legen immer mehr die Möglichkeit nahe, daß ethnische und rassische Minderheiten weltweit medizinisch benachteiligt werden, wenn bei der Medikamenten-Entwicklung und der Weiterentwicklung der Behandlungs-Methoden - wie bisher - nur weiße Europäer (oder auch Japaner) berücksichtigt werden oder Versuchsgruppen, in denen wohlstandsmäßig arme Minoritäten weiterhin Minoritäten bleiben. Es stellt sich immer mehr heraus, daß gleicher medizinischer Versorgungs-Standard weltweit möglicherweise nur dadurch erreicht werden kann, daß man die besondere Genetik der jeweiligen ethnischen und rassischen Gruppen mitberücksichtigt, da ihre Genetik eben oft in bedeutsamer Weise anders ist als die anderer Gruppen. (Zum Beispiel werden selbst heute noch nach Jahrzehnte langem medizinischen Austausch in Japan 60 % andere Arznei-Mittelwirkstoffe verwendet als in Deutschland.)

Aus der Erkenntnis dieser Zusammenhänge ergeben sich natürlich eine Fülle weiterer ethischer und juristischer Fragen.

Auf den ersten Blick glaubt man, daß die Herbst-Ausgabe des "Journal of Law, Medicine and Ethics" diese Themen angehen würde, da ihr Titel lautet "Genome Justice: Genetics and Group Rights". In der Ankündigung heißt es dann weiter:
We are closer than ever before to discovering valuable knowledge about genetic disorders, their possible cures, and the origin and migration patterns of distinctive groups; however, there is much to debate as we consider the implications this research may have on studied populations. In the current symposium issue of "The Journal of Law, Medicine & Ethics", researchers reflect on the many ethical and legal issues that have arisen as a result of genomic research on populations and distinctive groups.
Angeblich soll diese Ausgabe online freigeschalten sein, ich erkenne aber nur, daß die Folge davor freigeschalten ist. Die Themen jedenfalls klingen schon spannend:
- Population Genomics and Research Ethics with Socially Identifiable Groups
Joan L. McGregor
- Genes and Spleens: Property, Contract, or Privacy Rights in the Human Body?
Radhika Rao
- Human Genetics Studies: The Case for Group Rights
Laura S. Underkuffler
- Cultural Challenges to Biotechnology: Native American Genetic Resources and the Concept of Cultural Harm
Rebecca Tsosie
- Narratives of Race and Indigeneity in the Genographic Project
Kim TallBear
- The Human Genome as Common Heritage: Common Sense or Legal Nonsense?
Pilar N. Ossorio
- Partnership in U.K. Biobank: A Third Way for Genomic Property?
David E. Winickoff
Wenn man in die "Abstracts" hineinschaut, erkennt man, daß sich die Forscher offenbar doch immer noch allzu zögerlich den eigentlichen Problemen, die eingangs angerissen wurden, stellen. Ich kann nicht erkennen, daß ein "Gruppenrecht" auf gleichwertige medizinische Versorgung weltweit vehement und robust gefordert werden würde. Aber Genaueres könnte man wohl nur sagen, wenn man tatsächlich rein schauen könnte ... (Vielleicht kann mir ja ein Leser, der an die Dinger herankommt, ein paar pdf.s schicken? ... Ähm, das Editorial und der erste Aufsatz würden mich zunächst am meisten interessieren ...)
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