Donnerstag, 19. Juni 2008

Erbliche Sechszehigkeit und die Bevölkerungsgeschichte des Vorderen Orients

Ein kleines Beispiel zu den vielfältigen Erkenntnispotentialen der modernen Humangenetik

In dem Buch „Sie bauten die ersten Tempel“ (1) über das älteste Kultheiligtum der Menschheit auf dem Göbekli Tepe in der Südtürkei (10.000 Jahre alt) (2) erwähnt der Ausgräber Klaus Schmidt Hinweise auf Polydaktylie, auf erbliche Sechszehigkeit in Ain Ghazal in Jordanien, der frühneolithischen „Schwesterstadt“ von Jericho, die von dem deutsch-amerikanischen Archäologen-Ehepaar Rollefson ausgegraben wird (1, S. 40). Eine Ausstellung der eindrucksvollen, dort vorgefundenen Ahnenfiguren - unter anderem auch der „plastered skulls“ (übermodellierte menschliche Schädel) - machte im Sommer 2005 in Bonn auf diese Forschungen aufmerksam (3).

Abb.: Beispiel für Polydaktylie

Da Vielfingrigkeit und Vielzehigkeit erblich sind (4), wird es schon aufgrund eines solchen ausgefallenen Erbmerkmals möglich zu erforschen, inwieweit es im Vorderen Orient (human-)biologische Kontinuität seit dem Frühneolithkum gibt, bzw. welcher Art diese humanbiologische Kontinuität sein könnte. Beim derzeitigen Forschungsstand (5, 6) darf man aber nicht mehr erwarten, daß es sich um besonders „einfach gestrickte“ biologische Kontinuität handelt. In den letzten Jahren gab es erste genetische Hinweise auf ein weitgehend vollständiges Aussterben des ersten Ackerbauern-Volkes Mitteleuropas, der Bandkeramiker, sowie auch des Volkes der Etrusker - oder zumindest seiner Oberschicht.

/Ergänzung 8.1.2018: Die Jahre seit 2015 haben einen Fülle von Neuerkenntnissen aus der Ancient-DNA-Forschung gebracht, über die hier auf dem Blog auch im Herbst 2017 in mehreren Aufsätzen berichtet worden ist. Nach diesen ist der vorliegende Artikel sehr vorausschauend gewesen: Tatsächlich liegt im Vorderen Orient seit dem Natufium und Frühneolithikum genetische Kontinuität bis heute vor, während für Europa ganz andere Verhältnisse zu charakterisieren sind, die sich unter anderem darin wiederspiegeln, daß die Bandkeramiker dort heute ausgestorben sind. In Europa gibt es eine dem Vorderen Orient vergleichbare genetische Kontinuität erst seit dem Spätneolithikum, seit der Zuwanderung der Indogermanen von der Mittleren Wolga aus. - Der vorliegende Aufsatz war also überraschend "gut" in der Vorhersage von Erkenntnissen über die populationsgenetische Kontinutität im Vorderen Orient, die seit 2015 abgesichert sind. Aber das soll nicht heißen, daß dieser Blog nicht fähig zum Irrtum wäre. Mit der Anerkennung der Tatsache, daß die ersten europäischen Bauern auch genetisch mediterraner Herkunft waren (neolithisch-anatolischer), hat er sich über mehrere Jahre sehr schwer getan. Aber auch dieser Umstand ist heute abgesichert./ 

Diese beiden Hinweise und auch viele weitere zeigen auf, daß es in der Menschheitsgeschichte immer wieder zu populationsgenetischen „Flaschenhals-Ereignissen“ gekommen ist. Ein bevölkerungsbiologisches Flaschenhals-Ereignis bedeutet einen weiträumigen, starken Rückgang der Ursprungs-Bevölkerung bei Zuwanderung neuer Bevölkerungen aus anderen Bereichen mit nachfolgendem erneuten Bevölkerungswachstum von den durch diese Prozesse „neu selektierten“ Bevölkerungsgruppen.

Die Bedeutung von bevölkerungsbiologischen „Flaschenhals-Ereignissen“

Die Forschung erkennt derzeit immer deutlicher, daß solche bevölkerungsbiologischen „Flaschenhals-Ereignisse“ und die mit ihnen einhergehenden „Gründerpopulationen“ (das heißt populationsgenetisch „effektive Bevölkerungsgrößen“ von relativ kleinem Umfang einer jeweiligen Übergangsepoche) großen Einfluß auf die kulturelle und biologische Prägung künftiger Geschichtsepochen, also ganzer Jahrtausende haben (6). Es werden diese bevölkerungsbiologischen Vorgänge auch unter dem Begriff der „Ethnogenese“ behandelt, das bezeichnet die Neuentstehung von Völkern.

Von den Genetikern wird angenommen, daß das heutige 10 Millionen Menschen umfassende aschkenasische Judentum (das ist das traditionell deutschsprachige, jiddisch-sprachige Judentum) zur Hälfte von nur wenigen Frauen abstammt, die im Frühmittelalter (parallel zur Ethnogenese des deutschen Volkes) in süddeutschen Rheinstädten gelebt haben (7, 5) (siehe auch diverse frühere Beiträge hier auf dem Blog). Vor dem Frühmittelalter gab es ein aschkenasisches Judentum gar nicht, weder biologisch noch kulturell, genauso wenig wie es vor dem Frühmittelalter ein deutsches Volk gab.
Beim aschkenasischen Judentum handelt es sich also um eine Abspaltung vom sephardischen (romanischsprachigen und arabischen) Judentum, das während des Mittelalters seine kulturelle und religiöse Dominanz innerhalb des weltweiten Gesamtjudentums an das aschkenasische Judentum abtrat ähnlich wie überhaupt der südeuropäische Raum seine kulturelle und wirtschaftliche Dominanz während des Mittelalters und der Neuzeit schrittweise an den mittel- und nordwesteuropäischen Raum abgetreten hat.

Auch das aschkenasische Judentum stammt, so weisen alle genetischen Studien immer wieder aus, aus dem Vorderen Orient. Umstritten ist noch, ob die vielen blonden, aschkenasischen Juden nicht doch von Einmischungen einheimischer mitteleuropäischer Bevölkerung abstammen könnten. Auch sonst findet man viele Erbmerkmale in auffallend ähnlichen Häufigkeiten bei aschkenasischen Juden und Mitteleuropäern vor. - Es würde sich also in jedem Fall bei solchen und anderen Flaschenhals-Ereignissen jeweils um bevölkerungsbiologische, bewußtere oder unbewußtere „Auswahl“-Ereignisse handeln, die zwar z.T. die wesentlichsten psychologischen Erbmerkmale eines Volkes bis heute mögen erhalten haben (also vor allem auch religionspyschologischer, mentalitätspsychologischer Art), die aber doch auch viele stärkere Veränderungen im „Gen-Pool“ ermöglicht haben können, aufgrund deren ja Neuanpassungen an neue, äußere, geschichtliche Bedingungen in der Evolution immer stattfinden. Dies wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Intelligenz-Evolution während der 200.000 Jahre Menschheitsgeschichte von einem IQ von 57 bei den heutigen Buschleuten in Südafrika bis zu einem IQ von 115 bei den heutigen aschkenasischen Juden gelten (8, 5).

Der „Gen-Pool“ eines Volkes ist der Gesamtbestand an Erbmerkmalen innerhalb eines Volkes (oder allgemeiner: einer Population). Flaschenhals-Ereignisse verändern also den „Gen-Pool“ eines Volkes, einer Bevölkerung immer auf ganz charakteristische Weise. Sie verstärken bestimmte Erbmerkmale eines Volkes und schwächen andere ab, je nach Selektionswert der jeweiligen Erbmerkmale innerhalb der neuen „kulturellen“ und natürlichen Umgebung, an die die Anpassungsprozesse stattfinden. Das heißt also, je nach den spezifischen Erbmerkmalen jener Familien, die auch innerhalb von kulturellen und biologischen Krisenzeiten noch kinderreich sind und es über die Generationen hinweg bleiben.

Diese oft wenigen Familien bilden den Kernbestand der „effektiven“ Bevölkerungsgröße eines Volkes, wie das die Populationsgenetik nennt. (6) Von der äußerlich sichtbaren Bevölkerungsgröße eines Volkes müssen also aus der Sicht der Populationsgenetik alle generationenübergreifend kinderlosen und kinderarmen Familien und Einzelindividuen abgezogen werden.

Beispiel Erbmerkmal Rohmilch-Verdauung

Da in Nordeuropa heute fast 100 % der Bevölkerung das Erbmerkmal besitzt, als Erwachsene Rohmilch verdauen zu können, und da das Bevölkerungen in Afrika und Asien nicht besitzen (oder auffällig anders genetisch verschaltet), müssen irgendwann in der Bevölkerungsgeschichte Nordeuropas jene Familien und kleinen „Ausgangspopulationen“ besonders viele Kinder gehabt haben, die aufgrund einer Mutation als Erwachsene Rohmilch verdauen konnten. Es wird dies in den Anfangsphasen der Einführung der Milchviehhaltung in Nordeuropa gewesen sein (vor 6.000 Jahren oder später). Vielleicht bei der Entstehung der frühen Trichterbecher-Kultur in der "Wangels-Phase" in Ostholstein um 4.100 v. Ztr.. (Siehe frühere Beiträge hier auf dem Blog.)

Der Kinderreichtum einer solchen "Ausgangspopulation" veränderte also den Bestand der Erbmerkmale der nordeuropäischen Bevölkerung in einer genetischen Neuanpassung an neue kulturelle Umstände. Menschen und Familien, die dieses Erbmerkmal nicht hatten, starben im Laufe von Jahrzehnten oder Jahrhunderten aus. Ähnliche „Szenarien“ kann man sich für die IQ-Evolution und die Evolution vieler anderer menschlicher Erbmerkmale denken (auch vieler erblicher Krankheitsneigungen). Und diese werden derzeit auf vielfältigsten Gebieten erforscht.

Es wäre nun interessant, wenn man im heutigen Vorderen Orient noch die gleiche vererbte Form von Polydaktylie (hier: Sechszehigkeit) vorfinden würde, wie sie für die Zeit vor 9.000 Jahren in Ain Ghazal festzustellen ist. Sieht man sich den hierfür relevanten, auf „Online Mendelian Inheritance in Man“ (ONIM) gebrachten Forschungsüberblick zu „Polydactyly“ an (9), wird nicht erkennbar, dass da für die genannte Fragestellung auf den ersten Blick gleich greifbare Erkenntnisse „herausgefiltert“ werden können. (Das war Stand Sommer 2007 - vielleicht hat sich bis heute schon etwas dort getan.)

Immerhin lässt sich aber dem Buch des Humangenetikers Armand Leroi der interessante Hinweis entnehmen (4, S. 119), daß Polydaktylie bei Afrikanern etwa zehn mal häufiger vorkommt als bei Europäern (bei einem von 300 afrikanischen Neugeborenen und nur bei einem von 3.000 europäischen Neugeborenen). Das ist ein erster Hinweis darauf, daß möglicherweise weltweit tatsächlich unterschiedliche Selektionsdrücke auf diesem Merkmal liegen. Niemand kann wohl heute schon sagen, welcher Art diese sein mögen. Weiterhin könnte dies als ein erster Hinweis darauf verstanden werden, daß die frühneolithischen Bauern im Vorderen Orient genetisch näher mit heutigen afrikanischen als mit heutigen europäischen Bevölkerungen verwandt gewesen sind. Aber das wäre noch sehr spekulativ, solange keine näheren Eingrenzungen geographischer Art vorgenommen werden können, sowie bezüglich der jeweiligen spezifischen Art der Polydaktylie (welcher Finger oder Zeh ist betroffen? und so weiter).

Es muß also derzeit noch vieles offen bleiben. Die neuen Fragestellungen in der Populationsbiologie von Völkern wie auch in der Archäologie lassen überall weite, unerforschte Erkenntnisgebiete aufscheinen, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten geschlossen werden. Das Erbmerkmal Polydaktylie ist hier auch nur als ein anschauliches Beispiel gewählt worden. Genauso könnte das Erbmerkmal Linkshändigkeit herausgegriffen werden oder das bekannte Erbmerkmal Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) (6). Viel eher noch als anhand der Sechszehigkeit wird erwartet werden können, daß man - wie bei den Bandkeramikern, dem höchstwahrscheinlich ausgestorbenen ersten Ackerbauern-Volk Mitteleuropas (5.600 - 4.900 v. Ztr.) -, aufgrund von Gen-Spuren in archäologischen Skelettresten überprüfen wird, inwieweit biologische Kontinuität oder genetische Verwandtschaft von ersten Ackerbauern der Menschheit gegenüber heute noch im Vorderen Orient (oder in New York oder Afrika) lebenden Völkern vorliegt oder nicht.


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Schrifttum:
  1. Schmidt, Klaus: Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger. Verlag C.H. Beck, München (2. Auflage) 2006
  2. Wikipedia deutsch: Göbekli Tepe. http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6bekli_Tepe
  3. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: 10.000 Jahre Kunst und Kultur aus Jordanien. Ausstellung. April bis August 2004 (Ausstellungskatalog unter gleichem Titel im Philipp von Zabern Verlag, Mainz 2005) http://www.kah-bonn.de/index.htm?ausstellungen/jordanien/index.htm
  4. Leroi, Armand Marie: Tanz der Gene. Von Zwittern, Zwergen und Zyklopen. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2004
  5. Wade, Nicholas: Before the Dawn. Recovering the Lost History of Our Ancestors. The Penguin Press, New York, Mai 2006; siehe auch: http://topics.nytimes.com/top/reference/timestopics/people/w/nicholas_wade
  6. Jobling, Mark A.; Hurles, Matthew; Tyler-Smith, Chris: Human Evolutionary Genetics. Origins, Peoples & Disease. Garland Science, New York 2004
  7. Wikipedia englisch: Ashkenazi. http://en.wikipedia.org/wiki/Ashkenazi
  8. Malloy, Jason: A World of Difference: Richard Lynn Maps World Intelligence. A review of Richard Lynn’s “Race Differences in Intelligence: An Evolutionary Analysis”. Auf: www.gnxp.com, 01.02.2006 - http://www.gnxp.com/blog/2006/02/world-of-difference-richard-lynn-maps.php
  9. ONIM, Stichwort „Polydactyly“. Auf: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/dispomim.cgi?id=603596

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