Montag, 15. September 2008

Wissenslogs: Die ländliche, nichtbäuerliche Wirtschaft

"Rural Nonfarm Economy" (RNE), die Entwicklung der ländlichen, nichtbäuerlichen Wirtschaft wird als ein entscheidender Faktor in der wirtschaftlichen Entwicklung der heutigen Entwicklungsländer gesehen, so erfahren wir im Interview von Stefan Ohm vom Wissenschaftsblog "Geo-Log" mit dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Steven Haggblade (Geo-Log), der zu diesem Thema gerade ein Buch veröffentlicht hat. (Amazon)

Auf dieses Thema habe ich selbst schon im Zusammenhang mit der Diskussion um die Evolution des (beruflichen) Verantwortungsbewußtseins und der Amischen hingewiesen auf den Chronologs (Natur des Glaubens von Michael Blume). Ich schrieb dort:

... Bei den Amischen kann man ja heute auch eine berufliche "Spezialisierung" im wirtschaftlichen sekundären Sektor (Handwerk usw.) beobachten, (die insbesondere von Donald Kraybill wissenschaftlich aufgearbeitet wird), da nicht alle amischen Kinder selbst Land kaufen können und selbst Landwirte werden können. Auf der Farm des Bruders richten sie deshalb handwerkliche Betriebe ein und gründen auf diese Weise selbst Familie.

Sie exerzieren gegenwärtig eine Entwicklung vor, die alle komplexer-arbeitsteiligen Gesellschaften geschichtlich durchlaufen haben, (in Mittel- und Nordeuropa besonders seit dem Frühmittelalter - aber sicherlich letztlich schon seit Einführung des Ackerbaus überhaupt).

Auch bei den Amischen ermöglicht und stabilisiert arbeitsteilige-gesellschaftliche Gliederung, Spezialisierung derjenigen, die nicht Bauern werden können, das weitere Wachstum, also die biologische Fitneß der Gruppe.

Siehe dazu das Buch von Donald Kraybill "Amish Enterprise" (Amazon).

"Pull-" und "Push-"Faktoren bezüglich ländlicher, nichtbäuerlicher Wirtschaft (NRE)

Steven Haggblade sagt nun in dem Interview:

Nonfarm earnings account for 35% to 50% of rural household income across the developing world. Landless and near-landless households everywhere depend heavily on nonfarm income for their survival, while agricultural households count on nonfarm earnings to diversify risk, moderate seasonal income swings and finance agricultural input purchases. (...)

Since many of the resource flows from agriculture to the secondary and tertiary sectors of the economy transit functionally and spatially via the rural nonfarm economy, an understanding of the forces that drive change in the RNFE becomes central to understanding the processes that drive overall economic growth. Rural households diversify into nonfarm activities in response to “pull” factors such as growing markets and rising rural purchasing power or in response to “push” factors such as falling rural wage rates and declining land availability. Thus the trajectory of rural nonfarm growth and development differs substantially across settings, driven by changes in agriculture, population and integration with urban markets.

Und dann sagt er weiter:

In successfully transforming economies, policy makers see the RNFE as a sector that can productively absorb the many agricultural workers and small farmers being squeezed out of agriculture by increasingly commercialized and capital intensive modes of farming. Given frequently low capital requirements in the nonfarm economy, policy makers in both settings view the RNFE as offering a potential pathway out of poverty for many of their rural poor.

(Ich schrieb dort gerade den folgenden Kommentar.)

Wenn ich Haggblade recht verstehe, dann sieht er im gegenwärtigen Afrika die "Zug"-Faktoren, die in einer prosperierenden landwirtschaftlichen Entwicklung liegen, positiv, die "Druck"-Faktoren, die aus einer stagnierenden oder rückläufigen landwirtschaftlichen Entwicklung folgen, als negative Folgen für die RNE. Es entsteht der Eindruck, als würde Haggblade alles von einer prosperierenden landwirtschaftlichen Entwicklung erwarten. Ich habe das Buch selbst noch nicht gelesen und würde deshalb gerne fragen: Ist dieser Eindruck richtig?

Wie war es in der europäischen Entwicklung?

Als Mittelalter- und Neuzeithistoriker würde ich dazu sagen: In der europäischen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Entwicklung war ja alles ein bischen anders. Da bekamen nur diejenigen eine Heiratserlaubnis, die eine zuverlässige wirtschaftliche Versorgung der künftigen Familie nachweisen konnten, damit diese neu gegründeten Familien nicht künftig die Armenhäusern der jeweiligen Dörfer füllen würden, die von den Dorfbewohnern jeweils ja selbst finanziert werden mußten, ihnen selbst zur Last fielen.

Damit war ein letztlich durch "sexuelle Askese" (Max Weber) angetriebener Anreiz gegeben, sich wirtschaftlich so zu positionieren, daß man an diese wertvolle Glücks-Ressource "Sexualität" herankam (als Mann oder auch als Frau). (Auch spätes Heiraten von wirtschaftlich nicht gut Versorgten wurde dadurch gefördert, was ja die Nachkommenzahl herabsetzt.)

In der Dritten Welt gibt es diese typisch europäische mittelalterliche und frühneuzeitliche Steuerung des Bevölkerungswachstums, um allgemeinen gesellschaftlichen Rückgang des Wohlstandes zu vermeiden, so weit ich weiß ja nicht.

Übrigens gab es diese Steuerung laut dem französischen Bevölkerungswissenschaftler Pierre Chaunu ("Die verhütete Zukunft") auch nicht in der Geschichte Chinas, in der immer fast 100 % der Bevölkerung auch verheiratet war, und in der chinesische Kaiser es sich sogar zur Pflicht machten, dafür zu sorgen, daß alle Chinesen heiraten konnten. Was immer wieder zu übertrieben starkem Bevölkerungswachstum führte, ohne daß die wirtschaftliche Komplexität parallel mitwachsen konnte.

Die chinesische Geschichte war dementsprechend von geradezu periodisch wiederkehrenden, katastrophalen Bevölkerungszusammenbrüchen gekennzeichnet, die nicht zu vergleichen wären mit den parallelen in Europa. Diesen gegenüber hätte Europa eine viel kontinuierlichere Entwicklung aufzuweisen. (Ich weiß nicht, ob das alles wirklich exakt so stimmt - so aber zumindest Chaunu.)

Wenn man die Aids-Epidemie im heutigen Afrika berücksichtigt und anderes, auf das diese Gesellschaften immer noch nur sehr unflexibel reagieren können, möchte man doch meinen, daß Afrika sich - unbewußt - eher an das von Chaunu beschriebene "chinesische Modell" ökonomisch-demographischer Entwicklung hält, als an das mittelalterlich-frühneuzeitlich europäische.

Nimmt denn Haggblade in seinem Buch auch demographische Entwicklungen in die Betrachtung hinein?

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