Montag, 3. Oktober 2016

Die Tsimane in Brasilien - Ihr gegenseitiges Helfen untereinander

Arbeitsteilungs-Assymetrien, Verwandtschaft und Gegenseitigkeit 
- In einfachen arbeitsteiligen, menschlichen Wirtschaftssystemen

Peter Hammerstein, Professor für Theoretische Biologie an der Humboldt-Universität Berlin, hat 2003 darauf hingewiesen, daß im Tierreich gegenseitige Hilfe keineswegs so allseits verbreitet und vorherrschend ist wie das lange angenommen worden war und wie das ja für den Verwandten-Altruismus auf jeden Fall gilt (1). 

Deshalb ging er schon spätestens ab 1994 Assymetrien in Gegenseitigkeits-Verhältnissen beim Menschen nach, weil Assymetrien - z.B. in Angebot und Nachfrage - zur Stabilisierung von Gegenseitigkeitsverhältnissen beitragen können (siehe z.B.: "Angebot und Nachfrage bestimmen den Erfolg bei der Partnerwahl hinsichtlich Kooperation, Gegenseitigkeit und Partnerfindung" [2]).

Der Züricher Evolutionäre Anthropologe Adrian Jaeggi und seine Mitarbeiter sind nun bei einem brasilianischen Indianerstamm, den Tsimane, solchen Assymetrien in gegenseitigen Austauschverhältnissen noch genauer nachgegangen (3, 4).

Ergebnis: 

Fleisch wurde innerhalb der Gruppe häufiger gegen Fleisch und Gartenprodukte eingetauscht, aber nicht für Gartenarbeit, Kinder- und Krankenbetreuung. Kinderbetreuung wurde geleistet im Austausch gegen Gartenarbeit, Kinder- und Krankenbetreuung, aber nicht im Austausch gegen Fleisch.

Das heißt: materielle Dinge, die schwerpunktmäßig Männer "erwirtschaften", werden gegen materielle Dinge eingetauscht, während soziale Fürsorge, die schwerpunktmäßig von Frauen erbracht wird, gegen soziale Fürsorge getauscht wird (Abb. 1).

Übrigens wurden in der Regel 100 Kilokalorien Fleisch gegen 300 Kilokalorien Gartenprodukte eingetauscht. Wenn das Angebot an Fleisch allerdings größer war, konnte sein Preis auch sinken.*) In einem kommentierenden und erläuterndenArtikel zu diesen Forschugnsergebnissen schrieben Fachkollegen (3):
"Eine lange Lebenszeit und ein Nahrungserwerb, der in Nischen stattfindet, in denen intensiv Fähigkeiten erworben werden müssen, erhöhen einerseits den Gewinn, der aus Spezialisierung gezogen werden kann, schaffen andererseits aber auch eine Abhängigkeit zwischen und innerhalb der Generationen, durch die die Kooperation stabilisiert und die Arbeitsteilung gefördert wird - schon in einfachen Wirtschaftssystemen."
"Humans’ slow life history and skill-intensive foraging niche increase the payoffs to specialization and create interdependence within and among generations, thus stabilizing cooperation and fostering divisions of labor even in informal economies."
Die Forscher meinen, das weitere Wachstum sozialer Komplexität beim Menschen wäre dann insbesondere durch kulturelle Normen und Institutionen stabilisiert worden.

Abb. 1: Zusammenfassung der Forschugnsergebnisse, aus: 4

In meiner eigenen  Forschungsarbeit gehe ich schwerpunktmäßig einer anderen These nach: Warum sollte Spezialisierung in einer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft nicht auch von Verwandtenaltruismus geleitet sein, wo sie doch - das ist ja das Prinzip - die Kosten (für den Altruisten) erniedrigt und den Nutzen (für die Nutznießer) erhöht - ?

Dieser Zusammenhang gilt übrigens auch schon bei der geschlechtlichen Arbeitsteilung der Tsimane. Genau dieser Zusammenhang ist ja auch die beschriebene "assymetrische Gegenseitigkeit", die auf Spezialisierung beruht. Allerdings ist der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad bei so kleinen, endogamen Gruppen sowieso schon so hoch, daß ein großer Teil der hier feststellbaren gegenseitigen Hilfe vermutlich als Verwandtenaltruismus zu beschreiben ist. Deshalb können die Forscher in ihrer Studie auch gar nicht "reinen" Gegenseitigkeits-Altruismus erforscht haben. Dessen sind sie sich auch bewußt, schreiben sie doch:
"Die wechselnde Bedeutung des Prinzips Gegenseitigkeit wie sie durch die langfristigen Ungewißheiten zwischen Geben und Nehmen bezeugt sind, könnten in einem Gleichgewicht bestehen mit dem Prinzip Verwandtschaft oder dieses sogar an Bedeutung übertreffen." 
"The relative importance of reciprocity, as evidenced by long-term contingencies between giving and receiving, may equal or outweigh that of kinship."
Insbesondere aber schreiben sie:
"Verwandtschaft war über alle Austauschbeziehungen hinweg verbunden mit einem größeren Umfang in den gewährten Sach- und Hilfeleistungen."
"Kinship was associated with greater giving for all commodities."
Und noch genauer:
"Das Prinzip Verwandtschaft wird am ehesten die Grundlage bilden für die ursprüngliche Auswahl der Menschen, mit denen Gegenseitigkeitsbeziehungen eingegangen werden."
"Kinship most likely provides a basis for the initial assortment of reciprocators".
Trotz ihres zum Teil irreführenden Titels und diesbezüglich vieler irreführender Textabschnitte handelt diese Studie also wiederum (!) vornehmlich vom: Verwandten-Altruismus. Welcher Altruismus hier ganz unabhängig von genetischer Verwandtschaft geleistet wird, dieser Frage gehen die Forscher überhaupt nicht nach. Ihnen scheint die Klärung dieser Frage auch nicht besonders wichtig zu sein. Dieser Punkt ist vielleicht der wichtigste Kritikpunkt an dieser Studie.

Dementsprechend erschien unter den nachfolgenden Studien, in denen diese zitiert wird, 2018 auch eine mit dem Titel: "Kinship underlies costly cooperation in Mosuo villages" (5). Diese Studie beinhaltet Netzwerkanalysen von Austauschbeziehungen in einer bäuerlichen Gesellschaft in Südchina.

/2016 auf Google-Plus eingestellt, 
überarbeitet auf diesen Blog 
übernommen: 9.3.2020/
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*) Im genaueren Wortlaut einer Zusammenfassung der Forschungsergebnisse (3):
"Fleisch wurde häufiger gegen Fleisch und für Gartenprodukte getauscht, aber nicht für Gartenarbeit, Kinder- oder Krankenbetreuung, während für Kinderbetreuung Gegenleistungen erbracht wurden auf dem Gebiet der Gartenarbeit, der Kinder- und Krankenbetreuung, aber nicht in Form von Fleisch. Diese Ergebnisse legen nahe, daß der größte Teil der Austauschbeziehungen durch Spezialisierungen bestimmt wird, die innerhalb von Wohlstandsklassen ausgebildet werden: Materielles Kapital wird eingetauscht gegen materielles Kapital, soziales Kapital wird eingetauscht gegen soziales Kapital. Die Spezialisierungen gründen auch auf einer Arbeitsteilung, die von Alter und Geschlecht bestimmt wird: erwachsene Männer widmen mehr Aufwand der Gewinnung von Fleisch und der Gartenarbeit als Frauen, während Frauen mehr Zeit dem Ernten von Gartenprodukten und der Fürsorge der Mitmenschen widmen als Männer. Und heranwachsende Mädchen widmen anteilmäßig mehr Zeit der Kinderbetreuung als heranwachsende Jungen."
Original: "Meat was exchanged more often for meat and for garden produce, but not for garden labor, childcare, or sickcare, while childcare was exchanged for garden labor, childcare, and sickcare, but not meat. These analyses suggest that most trade is patterned by labor specializations occurring within wealth classes: material capital for material capital and social capital for social capital. These specializations are also based on divisions of labor based on age and gender: adult males dedicate more effort to meat production and garden labor than females, while adult females spend more time harvesting garden produce and caring for the infirm than males, and adolescent females allocate proportionally more time to childcare than adolescent males."
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  1. Hammerstein, P. (2003). Why is reciprocity so rare in social animals? A protestant appeal. In Genetic and Cultural Evolution of Cooperation, ed. P. Hammerstein, pp. 84-93, Cambridge, MA: MIT Press.
  2. Noë, R. & Hammerstein, P. (1994). Biological markets: Supply and demand determine the effect of partner choice in cooperation, mutualism and mating. Behavioural Ecology and Sociobiology, 35, 1-11
  3. Shane J. Macfarlan: Social Evolution: The Force of the Market. In: The Cell, 2016, http://www.cell.com/current-biology/abstract/S0960-9822(16)30793-X
  4. Adrian Jaeggi et.al.: Reciprocal Exchange Patterned by Market Forces Helps Explain Cooperation in a Small-Scale Society. 2016, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982216306583
  5. Kinship underlies costly cooperation in Mosuo villages Matthew Gwynfryn Thomas , Ting Ji , Jiajia Wu , QiaoQiao He , Yi Tao and Ruth Mace Published:21 February 2018, https://doi.org/10.1098/rsos.171535 

Donnerstag, 11. August 2016

Plazentatiere - Sie entstanden erst unmittelbar vor Aussterben der Dinosaurier

In der Zeit vor 65 bis 69 Millionen Jahren

Die Evolution hat bei großen Schritten immer viel experimentiert. Und es gibt dementsprechend dann immer viele Übergangsformen. So auch beim Übergang von den Reptilien zu den Säugetieren. Ob die Evolution der echten Säugetiere mit einer Plazenta, also einer Gebärmutter, die lange Schwangerschaften erlaubt, vor dem Aussterben der Dinosaurer (vor 65 Millionen Jahren) einen langen Vorlauf hatte, wie das bisher zumeist angenommen worden war, wird immer fragwürdiger. Sicher ist, daß es aus dieser Zeit bis heute noch zum Beispiel eierlegende Kloakentiere oder Beuteltiere gibt, eben Übergangsformen (sie werden zusammen mit den echten Säugetieren zu den Eutheria gezählt) (Wiki).

Abb. 1: Beutelsäuger und Kloakentiere gibt es seit 125 Millionen Jahre, seit der Unteren Kreidezeit - Die hier abgebildete Art wurde 2005 entdeckt (Wiki)

Nach der molekularen Uhr sollten Plazentatiere eigentlich schon in der frühen Kreidezeit evoluiert sein. Aber: Seit Jahrzehnten sucht man aus dieser Zeit Fossilien von ihnen, findet sie aber nicht zweifelsfrei.

Nach einer neuen Studie (1) entstanden die Planzentatiere nun erst unmittelbar vor dem Aussterben der Dinosaurier in der Zeit vor 65 und 69 Millionen Jahren. Hier gibt es noch viel Diskussion. Aber dieses Datum ist jetzt mal der letzte Stand der Forschung. Auch für die Boreoeutheria (z. B. Maulwürfe, Katta) und Laurasiatheria (Huftiere, z.B. Giraffen) ist strittig, ob sie unmittelbar VOR dem Massenaussterben vor 65 Millionen Jahren entstanden sind oder unmittelbar danach. 

Um so tiefer man sich in die Studie einarbeitet, die frei zugänglich ist, um so komplizierter - und spannender - wird es. An dieser Stelle soll zunächst nur das Hauptergebnis festgehalten werden:

Wir zeigen, daß die Geschwindigkeit der morphologischen Evolution in den fünf Millionen Jahren unmittelbar vor dem Kreide-Tertiär-Massenaussterben drei mal größer ist als die Artbildung-Hintergrundsgeschwindigkeit während der Kreidezeit. (...) Eine Artenexplosion ergab sich als Plazentatier-Linien während des Frühen Paläozäns neue ökologische Nischen besetzten.
"We show that rates of morphological evolution in the 5 Myr interval immediately after the K–Pg mass extinction are three times higher than background rates during the Cretaceous. (...) An evolutionary radiation occurred as placental lineages invaded new ecological niches during the Early Palaeocene."

Also gegenüber den durchschnittlichen Artenbildung pro Zeitintervall in der Evolution allgemein während der Kreidezeit verdreifachte sich die Zahl der neuen Arten pro Zeitintervall für die Säugetiere in den fünf Millionen Jahren unmittelbar nach der Zeit vor 65 Millionen Jahren.

Fünf Millionen Jahre - das ist ungefähr die Zeit, die die Evolution brauchte von der Organisationsstufe der Schimpansen zur Organisationsstufe des modernen Menschen. Das ist also aus evolutionärer Sicht eine sehr kurze Zeitspanne.

Für den Neodarwinismus werden die Zeitspannen immer kürzer, in denen er - nach seinem Paradigma - mit Hilfe von Punktmutionen die Fülle der Artbildungen und die Intensität des Artwandels erklären muß. Denn bei der Entstehung der echten Säugetiere geht es nicht nur um Gehirnevolution und die Evolution - etwa - des zweibeinigen Gehens. Da geht es um viel grundlegendere Dinge wie eben eine Gebärmutter, um die Evolution intensiverer sozialer Bindungen zwischen Elterntieren und Jungtieren und vielen anderen sehr grundlegenden Dingen.

Spannendste Entwicklungen, die alle sehr grundlegende Fragen aufwerfen.

Als frühere Evolutionsforschung von einem "plastischen Zeitalter" sprach, scheint sie mit diesem Begriff der Wirklichkeit doch schon ziemlich nahe gekommen zu sein. 

Das "plastische Zeitalter" dauerte nur 300.000 Jahre

Denn nach einer weiteren Studie (2) kann Evolution, Artenbildung innerhalb von 300.000 Jahren auch die Fülle die Artenwelt hervorbringen, die nach dem Aussterben der Dinosaurier erreicht wurde. Bei den Buntbarschen in Ostafrika geht es zwar offenbar noch etwas schneller. Aber trotzdem sind 300.000 Jahre ja - aus Sicht der Evolution insgesamt - eine sehr schnelle Zeit. Der Zeitraum ist nur etwas länger als es anatomisch moderne Menschen gibt.

Ob solche Erkenntnisse noch mit den Annahmen des Neodarwinismus in Einklang gebracht werden können, daß Evolution vor allem durch Punktmutationen zustande kommt?

Vielmehr wird man ja jetzt - womöglich - bald als Regel aufstellen können, daß die Artbildung in der Evolution - recht häufig - jeweils in einem so kurzen Zeitraum abgelaufen ist (nach Massenaussterbeereignissen).

300.000 Jahre! Vom gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen bis zum Menschen brauchte die Evolution mindestens 4 Millionen Jahre, vom Homo habilis bis heute 2,5 Millionen Jahre.

 

/ Zuerst am 11.8. und 21.7.2016 auf Google+, 
dann gesichert auf St. gen. Kurzbeiträge,
hier leicht überarbeitet eingepflegt: 3.7.2021 /

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  1. "Eutherians experienced elevated evolutionary rates in the immediate aftermath of the Cretaceous -Palaeogene mass extinction", http://rspb.royalsocietypublishing.org/content/283/1833/20153026
  2. "Severe extinction and rapid recovery of mammals across the Cretaceous-Paleogene boundary, and the effects of rarity onpatterns of extinction and recovery", http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/jeb.12882/abstract 

Sonntag, 10. Juli 2016

Ist die biologische Evolution zu Ende?

Ausgangsbedingungen, Ablauf und Ende der biologischen Evolution
- Sind sie "bedingt" durch ein Ziel?

Abb. 1: Brauner Mausmaki (Microcebus rufus), Madagaskar
(Fotograf: Alex Dunkel)
Der britische Paläontologe Simon Conway Morris (geb. 1951) hat 2013 einen Aufsatz herausgebracht (1), in dem sehr grundlegende, neue Gedankengänge über die biologische Evolution der Arten auf unserer Erde enthalten sind. In diesem Aufsatz arbeitet er auf so etwas hinaus wie eine Erweiterung des "Anthropischen Prinzips" der Astrophysik und Kosmologie (Wiki) auf die Biologie.

Dabei werden viele neue Gedanken erörtert, etwa der Gedanke der Inhärenz, insbesondere aber der Gedanke, wonach die biologische Evolution die Grenzen der erreichbaren Komplexität im Wesentlichen auch schon erreicht habe. Und diese Gedanken werden aus der breiten Auseinandersetzung mit der neuesten Forschungsliteratur abgeleitet.

Zu dem Gedanken, daß die biologische Evolution auf der Erde zu Ende sein könnte, kündigte Simon Conway Morris schon im September 2013 eine wissenschaftliche Konferenz in Cambridge an für das Folgejahr unter dem Titel "Gibt es Grenzen für die Evolution?" ("Are there limits to evolution?") (MoL 9/2013). Sie hat im September 2014 stattgefunden (MoL 10/2014). Viele Tagungsbeiträge erschienen im Dezember 2015 in einem Themenheft der Zeitschrift "Interface Focus" (2). Zwischenzeitlich war das Thema im August 2015 im "Journal of Theoretical Biology" (3) aufgegriffen worden.

Das heißt also, die Anfangsbedingungen des Universums, die Feinabstimmung seiner Naturkonstanten, sowie die physikalischen, chemischen und biochemischen Beschaffenheiten, die sich später und eher zufällig und sehr speziell hier bei uns auf der Erde ergeben haben, schränken laut dieses Gedankens sehr stark ein,

  1. was evoluieren kann in diesem Universum,
  2. wie es evoluieren kann und
  3. wie weit es evoluieren kann.

Conway Morris arbeitet darauf hinaus, daß diese Dinge schon sehr früh in der Evolution festgelegt sind in sehr einfachen Organismen (er nennt das "Inhärenz", die er an einer Stelle auch als "Homunculus-artig" bezeichnet). Er arbeitet darauf hinaus aufzuzeigen, daß der Ablauf der Evolution mit diesen frühen Anfangsbedingungen ziemlich stark vorgegeben ist und gar nicht so viel anders ablaufen könnte, wenn sie noch einmal ablaufen würde irgendwo anders im Universum. Am Wesentlichsten aber ist - und am Neuesten von allem, was er sagt -, daß die Evolution vermutlich auch nicht mehr weiter gehen kann als sie bis heute fortgegangen ist, daß sie alles das an Komplexität, was sie erreichen kann - vor allem das Großhirn des Menschen, aber auch aufzeigbar an vielen anderen Bereichen - auch schon erreicht hat. Auf diesen letzteren zentralen Gedanken werden wir uns im folgenden fokussieren, wenn wir auch zugleich beschreiben wollen, wie Conway Morris ihn in seine übrigen gedanklichen Auseinandersetzungen einfügt.

Denn auch das Prinzip der Inhärenz sagt ja - so wie das schon zuvor von Conway Morris in das grundlegende biologische Denken eingeführte Prinzip der Konvergenz -, daß es so etwas wie "Voraussicht" gibt in der Evolution, so etwas wie Zielgerichtetheit, daß schon sehr früh festgelegt ist, was sich erst später mit Hilfe des früh Festgelegten entfaltet und entfalten kann.

Aussagen von Seiten der Philosophie ...

Sowohl die astrophysikalischen Forschungen zum Anthropischen Prinzip wie nun Simon Conway Morris können mit solchen Entwicklungen schon fast in der Wortwahl, bzw. in der Formulierung parallelen Entwicklungen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts gegenüber gestellt werden und auf inhaltliche Überschneidungen mit ihnen hin überprüft werden (6-8). Ohne daß die Forscher mit hoher Wahrscheinlichkeit sich mit diesen parallelen Entwicklungen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts beschäftigt haben werden. "Wie von selbst" also würden sich gegenwärtig in der wissenschaftlichen Forschungsliteratur Überschneidungen mit parallelen, bzw. vorausgehenden grundlegenderen Erkenntnissen und Aussagen in der Philosophie ergeben. So war von Seiten der Philosophie als grundlegender metaphysischer Gedanke zu Entstehung des Weltalls formuliert worden (7, S. 68f):

Im Anfang war der Wille Gottes zur Bewußtheit. Bewußtheit aber bedingt Erscheinung und so war der Wille Gottes, in Erscheinung zu treten.

Und auch die weiteren Stufen der Kosmologie und Evolution sind von Seiten der Philosophie jeweils mit solchen Worten formuliert worden, daß das Schöpfungsziel dieses oder jenes "bedingt". Und da dieses oder jenes "bedingt" wird, um das Schöpfungsziel zu erreichen, tritt es dann in Erscheinung. Aber es tritt immer nur insoweit in Erscheinung, als es vom Schöpfungsziel "bedingt" ist. Es wird also - nach dem hier ausgewerteten philosophischen Entwurf - nichts Überflüssiges geschaffen. Der Zufall, die Freiheit haben ihren Platz in der Evolution. Aber nicht, insoweit die Gesamtrichtung der Entwicklung davon betroffen ist. Hier gibt es keine Willkür. Und selbst in seinen Formulierungen kommt Simon Conway Morris der philosophischen Aussage und der darin enthaltenen Deutung der Kosmologie und Evolution nun nahe, wie wir sehen werden. Es findet sich auf Seiten der Philosophie auch folgende Aussage (7, S. 141):

Die göttliche Erscheinung, welche noch nicht erreichtes Willensziel Gottes ist, aber erfüllt ist vom Schöpfungziele, vermeidet vorzeitige Höchstentfaltung einzelner Anlagen und verbirgt unter der Hülle der Einfachheit die Werkstatt göttlichen Schaffens.

Es wird im folgenden noch zu zeigen sein, wie sehr diese Aussage der Philosophie paßt zu der These von Simon Conway Morris zum Thema "Inhärenz". Auch dieses Prinzip nämlich besagt, daß "unter der Hülle der Einfachheit" - so kann man durchaus sagen: "die Werkstatt göttlichen Schaffens" verborgen ist. Nämlich dahingehend, daß schon den einfachsten Lebewesen Strukturen "inhärent" sind, so Conway Morris, die später die der Evolution mögliche "Höchstentfaltung einzelner Anlagen" erlauben. Höchstentfaltung bis zum Menschen - mehr nicht. Zu der eben zitierten philosophischen Erkenntnis war mit folgendem Gedankengang hingeleitet worden (7):

Schauen wir zurück auf die unübersehbare Fülle von Tieren und Pflanzen, die geworden! Viele Arten scheinen sehr bedeutsam und hochentwickelt und erreichten dennoch nicht Bewußtheit, weil nur ein mattes Nachzittern der schöpferischen Erleuchtung
- gemeint: während der Artwerdung -
in ihnen lebte und ihnen die Wege wies. Und nun suchen wir unter ihnen die wenigen, welche die Träger der großen Schöpfungstufen zur Bewußtheit waren: Die Zellkugel Pandorina, das Zellbläschen Volvox und die schlichte wurmähnliche Spindel: der Amphioxus. Wie einfach und unauffällig, wie unbeachtet und eher verachtet scheinen sie uns unter der Menge der vielgestaltigen Tiere und Pflanzen. Unterscheiden sie sich nicht ganz in dem gleichen Sinne wie jene kindlichsten unter den Kindern, die erwachenden Genialen, sich von all den frühreifen, frühtoten Wunderkindern unterscheiden. (...) Dieser Unterschied ist kein Zufall, sondern er wiederholt sich mit Gesetzmäßigkeit. Es will auch dieser Schöpfungsabschnitt uns noch eine Weisheit künden. (...) Die Schöpfung des vergänglichen Wesens gibt uns ein geheimes Erkennungsmerkmal der Erscheinungen, welche auserwählt sind, Träger der hellsten göttlichen Offenbarung zu werden, denn sie sagt uns: ...
Und nun folgen jene Worte, die zuvor schon zitiert worden waren, nämlich:
Die göttliche Erscheinung, welche noch nicht erreichtes Willensziel Gottes ist, aber erfüllt ist vom Schöpfungziele, vermeidet vorzeitige Höchstentfaltung einzelner Anlagen und verbirgt unter der Hülle der Einfachheit die Werkstatt göttlichen Schaffens.

Und das ist genau der Grundgedanke des von Conway Morris in den Vordergrund gerückten Prinzips Inhärenz.

Aussagen von Seiten der Naturwissenschaft

Im folgenden soll nun der Aufsatz von Conway Morris aus dem Jahr 2013 (1) mehr oder weniger gründlich inhaltlich durchgegangen und referiert werden. Der Aufsatz ist im englischen Originaltext im Internet frei verfügbar (1). Da er aber auch für einen Leser, der englischsprachige wissenschaftliche Texte ansonsten recht flüssig lesen kann, sehr anspruchsvoll zu lesen ist, bzw. mehrmals sehr gründlich durchgegangen werden muß, bis man seinen Grundgedanken und alle seine Verzweigungen voll verstanden und nachvollzogen hat, sollen im folgenden in einem ersten Schritt wichtige Passagen desselben zur leichteren Nachvollziehbarkeit einfach ins Deutsche übersetzt werden. Dabei werden einige biologische Details von unserer Seite noch einmal (zumeist mit Verweis auf Wikipedia-Artikel) erläutert, allerdings nicht alle. Wenn noch Begriffe und Verständnisfragen beim deutschsprachigen Leser offen bleiben, kann auch von unserer Seite nur auf Wikipedia oder ähnliche Wissensquellen verwiesen werden als Auskunftsort, wo man sich weitere Auskünfte verschaffen kann. - In seinem Aufsatz will Conway Morris vier sehr allgemeine Punkte über die Evolution der Arten herausarbeiten.

Als ersten Punkt will Conway Morris in seinem Aufsatz darlegen (1, S. 135), daß 

sich die nachgewiesenermaßen jeweils ursprünglichsten (primitivsten) Repräsentanten einer Organismen-Gruppe in Untersuchungen wiederholt als "unerwartet" komplex heraus stellen. Viele solcher Beispiele sind inzwischen verfügbar, aber am eindrucksvollsten sind unter diesen immer noch die Eukaryoten. 

Eukaryoten sind alle Organismen, deren Zellen einen Zellkern aufweisen, im Gegensatz zu den ursprünglicheren Prokaryoten, die keinen Zellkern aufweisen (siehe: Wikipedia). (Zu den Eukaryoten zählen auch die drei Arten, die auf Seiten der hier herangezogenen philosophischen Entwurfs genannt worden waren: Pandorina, Volvox und Amphioxus, also das Lanzettfischchen.) Damit zusammenhängend will Conway Morris als zweiten Punkt das Thema Inhärenz ("inherency") herausarbeiten. Er schreibt hierüber (1, S. 135):

Zum zweiten gibt es das Phänomen der evolutionären Inhärenz, die Beobachtung, daß vieles von dem, was erforderlich ist für das Entstehen einer komplexen Form schon in einem wesentlich früheren Stadium evoluiert ist. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Protein Kollagen, lebenswichtig als ein Strukturmolekül in allen Vielzellern. Aber seine Ursprünge liegen nicht nur tiefer in der eukaryotischen Geschichte, sondern in dieser waren seine Funktionen nachgewiesenermaßen auch noch ganz andere. Inhärenz weist darauf hin, daß viel von der späteren Komplexität im Entstehen begriffen ist - geradezu Homunculus-ähnlich - viel tiefer im Artenstammbaum als es allgemein erwartet worden ist.

Das Thema Inhärenz hat er schon zehn Jahre zuvor, 2003, in der Einleitung seines damals erschienenen, bahnbrechenden Buches über die evolutionären Konvergenzen angesprochen (4, S. 5-8). Der hier behandelte Aufsatz von 2013 ist sowieso eigentlich vor allem eine gedankliche Fortsetzung seines Buches von 2003. Das Thema Inhärenz hat Conway Morris dann auch in einem neuen Buch im Jahr 2015 "The Runes of Evolution" (5) behandelt. Als dritten Punkt will Conway Morris im Jahr 2013 herausarbeiten, daß wachsende biologische Komplexität oft auch dann vorliegt, wenn Organismen im Spiel sind, die hierbei in der Regel als "Vereinfachungen" oder "Regressionen" unbeachtet bleiben. Er nennt als Beispiel unter anderem die parasitischen, wurmartigen Rhombozoen (Rautentiere) und Wimperntierchen (Ciliaten), die im Nierentrakt von Kopffüsslern (Cephalopoden) leben.

Da man von diesen als Nichtbiologe in der Regel noch nie etwas gehört haben wird, auch nicht unbedingt als Biologe, sei über diese hier zunächst Wikipedia zitiert (Wiki):

Die Tiere leben in den Exkretionsorganen von Kopffüßern. Sie werden meist als deren Parasiten betrachtet. Da sie durch Ansäuerung ihres Milieus die Ammoniak-Exkretion ihres Wirtes fördern, kann man sie auch als Endosymbionten auffassen. Die Infektionsrate von Cephalopoden mit Rhombozoen ist generell sehr hoch, in vielen Populationen sind beinahe alle Kopffüßer betroffen. In Jungtieren überwiegen dabei in der Regel Nematogene, in älteren Tieren Rhombogene, ohne dass genau bekannt wäre, warum. Die Rhombozoa treten meist nur in einer oder in wenigen nahe verwandten Cephalopoden-Arten auf, sie sind also wirtsspezifisch. Eine einzelne Kopffüßer-Art kann dabei allerdings von mehreren Rhombozoen-Arten infiziert werden. So sind z.B. an der kalifornischen Küste 18 Arten von Rhombozoa bekannt, die acht Kopffüßer-Arten befallen.

Dies hier nur als kurze eingefügte Erläuterung.

Conway Morris nennt diese nun eigentlich nur im Vorübergehen in den folgenden Ausführungen (1, S. 136):

Viele solcher Beispiele wie die Rhombozoen (Rautentiere)/Wimperntierchen-Verbindung mit den Nierenorganen der Kopffüssler (Cephalopoden) oder - als ein alternatives Beispiel - die Bewohner eines Insekten-Mikrobioms - sind in intimer Weise symbiotisch und es kann argumentiert werden, daß sie ebenso komplex sind wie manche bekannteren Systeme.

Es muß später noch einmal genauer hingeschaut werden, warum Conway Morris dieser Gedanke so wichtig ist. Jedenfalls als vierten und letzten Punkt geht es ihm um folgendes (1, S. 136):

Schließlich präsentiere ich Belege dafür, daß biologische Systeme den Grenzen von Komplexität nahe gekommen sind oder sie in einigen Fällen schon erreicht haben. Dies ist belegbar durch Beispiele so unterschiedlich wie die Extremophilen, das Nerven- und Sinnessystem, Enzyme wie Rubisco, komplexe Symbiosen und funktionale Komplexe wie Zähne oder die Tagmatisierung der Gliederfüßler (Arthropoden). 

All diese Beispiele werden im folgenden noch genauer erläutert. Hier sei zum Verständnis des Begriffes Tagmatisierung zunächst nur auf Wikipedia verwiesen (s. Tagmata). Conway Morris schreibt dann weiter:

Das Paradoxon ist, daß obwohl der Evolution die Dinge ausgegangen sind, die sie tun kann, im Falle des Wissens und der Weisheit das genaue Gegenteil der Fall zu sein scheint. Hier haben hinsichtlich der letzteren das Ende der Komplexität noch nicht erreicht.

Conway Morris möchte seinen Aufsatz zunächst lediglich als eine "Tour d'horizon" verstanden wissen hinsichtlich der gegebenen Thematik, also als einen ersten, sichtenden Überblick, aber als einen solchen (1, S. 136),

dessen zentraler Tenor es paradoxerweise ist, nach den Grenzen dessen zu suchen, was möglich ist.

Einige Seiten später benennt Conway Morris seine vier Themen noch einmal kürzer formuliert folgendermaßen (1, S. 141):

a) Wie einfach sind die Ausgangspunkte?, b) Was liegt dem Prozeß inhärent zugrunde?, c) Ist Komplexität irreversibel? und d) Sind äußerste Grenzen für biologische Komplexität vorhanden? In all diesen Fällen schlage ich vor, daß die Antworten nicht jene sind, an die die heutigen Neodarwinisten denken. (...) Ich will eine Reihe empirischer Beobachtungen vortragen, die nahelegen, daß die Möglichkeiten von Komplexität begrenzt sind mit einer paradoxen Ausnahme: uns selbst.

Ist der Hyperraum des biologisch Möglichen ausgeschöpft?

Conway Morris führt dann in Auseinandersetzung mit dem Komplexitätsforscher Chris Lucas aus, daß die Komplexität evoluierender Systeme keineswegs - wie Chris Lucas meint - Vorhersagbarkeit vermissen lasse. Conway Morris bezieht sich dafür natürlich auf die Grundaussage seines Buches aus dem Jahr 2003 und schreibt in Übereinstimmung mit dieser (1, S. 137):

An dieser Stelle ist es wertvoll festzustellen, daß ein gewisser Führer in Richtung Vorhersagbarkeit vorliegt in der Allgegenwärtigkeit evolutionärer Konvergenz. Dies ist ein wichtiger Umstand angesichts der Luca'schen Beobachtung, daß "in jedem komplexen System viele Kombinationen der Teile möglich sind, so viele, daß wir zeigen können, daß die meisten Kombinationen während der gesamten Geschichte des Universums noch kein einziges mal aufgetreten sind". Dieser Gedanke legt nahe, daß zwar im Prinzip der kombinatorische Raum aller biologischen Möglichkeiten immens ist, die Wirklichkeit, die durch evolutionäre Konvergenz aufgedeckt wird, aber jene ist, daß einige, wenn nicht die meisten Kombinationen schon ausprobiert worden sind und sich als solche herausgestellt haben, die nicht geglückt sind (Original: "not found wanting").

Für die Formulierung "not found wanting" kann man auch zahlreiche andere Übersetzungen ins Deutsche wählen, auch solche, die dem Grundgedanken der philosophischen Deutung näher kommen, auf die schon oben Bezug genommen worden war, etwa: "... und sich als solche herausgestellt haben, die nicht vermißt werden". Dieser Umstand mag aufzeigen, daß wir es - typisch für die Texte von Conway Morris - einerseits mit einer durchgehend naturwissenschaftlichen Argumentation zu tun haben, seine Texte aber gleichzeitig als philosophische gelesen werden können. (Auf diesen Umstand wiesen wir schon in unserer Amazon-Rezension zu seinem Buch von 2003 hin, die damals manche Zustimmung gefunden hat.) Conway Morris nimmt also den argumentativen Faden seines Buches aus dem Jahr 2003 wieder auf, der gegen das neodarwinische Paradigma gerichtet war, repräsentiert einstmals durch ebenfalls ans Philosophische streifende Bücher wie Jaques Monod's "Zufall und Notwendigkeit" (1970), später durch Steven Jay Gould's "Zufall Mensch" (1989) (10), und zuletzt auch, wie Conway Morris ausführt, durch "Elsasser's unendliche Zahlen" (1, S. 138),

die voraussetzen, daß jede mögliche Kombination mit gleicher Wahrscheinlichkeit ins Dasein tritt, überleben und sich vermehren kann.

Conway Morris schreibt zu diesen letzteren:

Aber dies ist natürlich extrem unwahrscheinlich. Sei es mit Bezug auf lebensfreundliche Aminosäuren (sowie ihrer Chiralität), sei es mit Bezug auf den genetischen Code oder  in Hinsicht auf Konvergenzen auf dem Gebiet der Enzyme - und das ist erst der Anfang der Geschichte - kann argumentiert werden, daß das Substrat der Möglichkeiten, die vorherbestimmt sind durch die physikochemischen Bedingungen des Universums, sicherstellen, daß praktisch die Gesamtheit des biologischen Möglichkeitenraumes ("biological hyperspace") unbesucht bleiben wird, nicht weil es dafür bisher zu wenig Zeitraum gegeben hat, sondern weil die hypothetischen Alternativen niemals wirklich funktionieren werden.

Mit diesen Fragen hatte sich Conway Morris schon in den ersten grundlegenden Kapiteln seines Buches von 2003 beschäftigt (4). Diese wurden leider in der vorliegenden deutschen Übersetzung seines Buches nicht mit aufgenommen, worauf wir ebenfalls schon in unserer Amazon-Rezension hinwiesen, und was zeigte, daß der Verlag und (oder) der Übersetzer nicht ausrechend Sensibilität hatten für die sehr grundlegende Bedeutung dieser Kapitel für das Gesamtargument des damaligen Buches von Conway Morris.

Exkurs: ... Und warum ist es gerade dieser Feierabend-Blog, der das Thema im deutschsprachigen Raum als erster behandelt?

Bei dieser Gelegenheit fragt man sich übrigens auch, warum wir mit diesem Blogbeitrag die ersten sind, die den hier behandelten Aufsatz und Grundgedanken von Conway Morris aus den Jahren 2013 und 2015 erörtern und ihn dazu zunächst einmal nur in weiten Teilen ins Deutsche übersetzen müssen. Nämlich um den anspruchsvoll zu lesenden englischen Originaltext zu verstehen, und um damit seine Gedanken überhaupt bekannt zu machen und um schließlich in einem letzten Schritt auch eine erste Bewertung und Einordnung derselben vorzunehmen. Was letzteres sowohl naturwissenschaftlich wie natürlich auch philosophisch geschehen kann, bzw. in Bezugnahme zu schon vorliegenden Aussagen der Philosophie.

Sucht man im deutschsprachigen Internet der letzten drei Jahre nach dem Namen Simon Conway Morris, findet man wirklich den einen oder anderen sehr anregenden Aufsatz allgemeinerer Art. Aber in keinem werden die in dem vorliegenden Blogbeitrag enthaltenen Gedanken erörtert. Ist dieser Umstand nicht schade? Spannendste und anspruchsvollste, herausfordernde Erörterungen über Grundfragen der Gesamtdeutung unseres Wissens von der Welt werden - in diesem Fall seit drei Jahren - gar nicht aufgenommen, gar nicht geführt. (Dabei kann sich doch schon einmal die Frage stellen: Sind Erörterungen über Inhalte solcher Aufsätze nicht würdiger der Kultur unseres Abendlandes als Erörterungen sagen wir ... über die Kriminalitätsrate unter Flüchtlingen ....?) - Aber es ist ja nicht das erste mal, daß dieser Feierabend-Blog im deutschsprachigen Raum früher als andere Wissenschaftsautoren Themen aufgreift, die später dann auch noch viele andere Autoren im deutschsprachigen Raum häufiger behandeln werden. So ging es uns ja auch schon - zum Beispiel - mit dem Conway Morris-Buch von 2003.

Unter Berücksichtigung evolutionärer philosophischer Entwürfe des frühen 20. Jahrhunderts, auf die wir schon Bezug genommen hatten, bekommt man vermutlich mitunter noch einen schärferen, präzisionsgenaueren Blick  auf neuere Entwicklungen in der Naturwissenschaft als würde man die Aussagen solcher philosophischer Entwürfe nicht mit in Rechnung stellen bei der Beurteilung der geistigen Entwicklungen unserer Zeit. So jedenfalls möchten wir meinen (- Exkurs-Ende).

Simon Conway Morris jedenfalls schreibt weiter (1, S. 138):

Wenn diese Annahme - daß hypothetische biologische Alternativen nicht funktionieren - sich bestätigen sollte, dann ist das Leben nicht nur extrem fein austariert ("finely poised") zwischen nicht zu verwirklichenden Möglichkeiten, die entweder quasi-kristallin oder chaotisch sind (siehe Macklem, 2008), sondern die Evolution ist gezwungen, entlang der Silberminen der Lebensfähigkeit zu navigieren, welche eine Handvoll Routen definieren über eine ansonsten wüste und tote Landschaft.

Gemeint ist die Landschaft des Hyperraumes der zumindest prinzipiell denkbaren Möglichkeiten, biologische Strukturen zu schaffen:

Wenn, wie ich vermute, das Leben ebenso fein abgestimmt ist ("fine-tuned"), wie der Rest des Universums, dann können die Grenzen für Komplexität besser eingeschätzt werden.

Hier deutet sich an, worauf schon anfangs hingewiesen worden ist. Conway Morris arbeitet hin auf eine Erweiterung des astrophysikalischen Anthropischen Prinzips auf die biologische Evolution.  In früheren Jahren hat Conway Morris in internationalen Projektgruppen sich sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, ob es im Universum Alternativen zu der Form komplexen Lebens auf unserer Erde gegen kann und wenn ja, in welcher Form. Siehe zu dieser Fragestellung allgemein Wikipedia (Ausserirdisches Leben, Astrobiologie). Auch aus diesem Blickwinkel heraus wurden seine Gedanken für die vorliegende Thematik geschärft.

Inhärenz - Den "einfachen" evolutionären Anfangsbedingungen und Ausgangspunkten wohnt überraschenderweise die Möglichkeit zu großer Komplexität "inne"

Folgen wir weiter den Ausführungen von Conway Morris. Schwämme bestehen, so führt er aus, aus 15 unterschiedlichen Zelltypen, Menschen aus ungefähr 215 unterschiedlichen Zelltypen (1, S. 139). Conway Morris fragt sich jedoch, ob dieser offensichtliche Unterschied tatsächlich - wie von anderen vorgeschlagen - als ein guter Maßstab für wachsende biologische Komplexität erachtet werden sollte. Er tut dies mithilfe des folgenden Gedankenganges (1, S. 139/140):

Zunächst müssen wir vorsichtigt darin sein, die Komplexität von einigen "primitiven" Organismen zu unterschätzen. In dieser Hinsicht gibt uns der Keulenpolyp (Clava multicornis) eine nützliche Lehre. Denn er zeigt ein "überraschend" komplexes Verhalten. Dieser Umstand wird untermauert durch eine auffallende Polarisation seines Nervensystems und eine Anordnung seiner Sinneszellen und ebenso durch ein "unerwartetes" Ausmaß seiner neuralen Organisation und zellulären Vielfalt. (...) Wenn es um morphologisch so "einfache" Gruppen wie die Schwämme und die Nesseltiere (Cnidaria) geht, dann steht die relativ geringe Anzahl von Zelltypen in einem krassen Gegensatz zu dem Ausmaß ihrer genomischen Komplexität. (...) In Hinsicht auf die Nesseltiere oder zumindest ihrem Modellorganismus, nämlich der Seeanemone Nematostealla, gilt: "viel der genomischen Komplexität hinsichtlich des Geninhalts - und der Genstruktur ist schon in den gemeinsamen Vorfahren aller Eumetazoa vorhanden". Dies schließt das Nervensystem ein, wichtige Komponenten, die nicht nur bei den Schwämmen evoluiert sind, sondern sogar weit früher unter den Prä-Metazoen. (...) Das heißt, der molekularen Beschaffenheit der Schwämme und ähnlicher Gruppen von Organismen sind die Potentiale, bzw. Möglichkeiten für komplexere Lebenssysteme innewohnend (inhärent). Aus dieser Sicht ist das Auftreten jener komplexen Nervensysteme, das sich schon in den Planula (einer Larvenform der Nesseltiere) angekündigt hat, sehr wahrscheinlich, wenn nicht sogar unvermeidlich.

Sprich, frühe Ausgangsbedingungen in der Evolution des Organischen bedeuten schon für sich eine große Wahrscheinlichkeit, bzw. Unvermeidlichkeit dahingehend, daß aus ihnen, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht, bestimmte andere, komplexere Strukturen evoluieren können. Conway Morris schreibt dann weiter im Hinblick darauf, daß das menschliche Gehirn die bislang komplexeste, bekannte Struktur im Weltall ist (1, S. 140, Hervorhebung nicht im Original):

Es ist immer noch wertvoll daran zu erinnern, daß der spezifische Weg zu Komplexität vor nicht weniger als 1,5 Milliarden Jahren begann. Warum schon damals? Weil damals der Zeitpunkt war, an dem das Sichtbarwerden jener genetischen Komponenten der Pilze und Pflanzen, die wir später im Nervensystem von Tieren finden (Mineta et. al., 2003), als erster Zeitpunkt gewählt werden kann, an dem ein zukünftiges Nervensystem wahrscheinlich wird, wenn nicht sogar sehr wahrscheinlich. Man bemerke ebenfalls, daß Mineta et. al. nicht einfach identifizieren einen sehr allgemeinen Satz von Proteinen in Pilzen und Pflanzen, sondern einen, der in der Folge eine spezifische Verwendung findet in verschiedenen nervlichen Kategorien (wie als Neurotransmitter, Nervendifferenzierung etc.). Es ist unwahrscheinlich, daß Nervensysteme selbst sehr viel älter als 580 Millionen Jahre sind (Pecoits et. al., 2012), Gehirne (oder etwas ihnen nahe Kommendes) folgten nur wenig später (und sicher um 530 Millionen Jahre vor heute). Nachfolgend erfolgte bei den Wirbeltieren ein zumindest vielfaches Anwachsen der Gehirngröße. Aber diese stürmische Encephalisation (anteilige evolutionäre Gewichtzunahme des Gehirns abgeglichen mit dem Körpergewicht) wurde, wie es scheint, erst in effektiver Weise initiiert ungefähr in den letzten 20 Millionen Jahren (derzeitige Daten weisen auf etwa 18 Millionen Jahre für Delphine, etwa 7 Millionen Jahre für Hominiden und vielleicht eine ähnliche Zeit für die Neukaledonienkrähen. (...) Diese Zeiträume erinnern uns daran, daß von einer Perspektive - jener von Nervensystemen - Komplexität lange auf sich hat warten lassen. Aber als das Wachstum an Komplexität Geschwindigkeit aufnahm, geschah dies vielleicht exponentiell und noch eindrucksvoller: mit einer gewissen Synchronizität.
Man kann natürlich unzählige andere Beispiele aus der Biologie wählen und es wäre ein Fehler anzunehmen, daß die Dinge voranschreiten entsprechend eines irgendwie ausgemachten Zeitplanes. Die Photosynthese zum Beispiel datiert zurück ziemlich sicher auf mindestens 3,5 Milliarden Jahre und es ist (...) offensichtlich nicht so, daß der Mechanismus der Photosynthese seit dem Archaikum besonders verbessert worden wäre.

Der Gedanke, daß es - ganz offensichtlich - eine Synchronizität in der Evolution verschiedener Organismengruppen gibt, fehlte uns noch in dem Buch aus dem Jahr 2003. Dabei ist es doch zum Beispiel offensichtlich, daß die Bedecktsamer (Angiospermen) etwa synchron evoluierten mit den Säugetieren und daß beide male - wie schon der Name sagt - eine Intensivierung der Nachkommenfürsorge einen Kernbereich des Evolutionsgeschehens überhaupt darstellte (Schutz des Samens durch "Bedeckung", Fürsorge für die Nachkommen durch Schwangerschaften und "Säugen"). (Wie ja Conway Morris scheinbar bis heute noch nicht den Gedanken geäußert hat, daß Zuwachs an Komplexität in der Evolution nur allzu oft zentral etwas mit dem Bereich Nachkommen-Fürsorge zu tun hat. Aber das nur am Rande.)

Bis hier hin haben wir die einleitenden Gedanken von Conway Morris referiert (1, S. 135-142). Ab Seite 142 geht er seine vier genannten Punkte nacheinander durch unter folgenden Zwischenüberschriften: 1. Wie einfach sind die Ausgangspunkte?, 2. Evolutionäre Inhärenz, 3. Komplexitätszunahme in Umkehr ("reversing complexity"), 4. Gibt es für biologische Komplexität Grenzen? - - - Schauen wir uns diese Abschnitte nun genauer an.

Zu 1.: Wie einfach sind die Ausgangspunkte?

.... / das ist künftig hier noch zu ergänzen! /

Zu 2.: Evolutionäre Inhärenz

Conway Morris schreibt (1, S. 145):

Es ist ein Gemeinplatz, daß die Evolution keine Voraussicht besitzt. Das stimmt, übersieht aber die Tatsache, daß wenn eine Struktur einmal entstanden ist, in vielen Fällen dann auch dahingehend argumentiert werden kann, daß dann eine bestimmte Stufe von Komplexität sehr wahrscheinlich, wenn nicht unvermeidlich geworden ist. Derelle et. al. (2007) schreiben über die Homeodomain-Proteine und sie argumentieren, daß ihr frühes Auftreten indiziert, "daß die Eukaryoten schon als Ganzes" 

also als gesamte Gruppe

"an Vielzelligkeit angepaßt sind" (S. 217). Und ähnliches kann geschlussfolgert werden für die SNARE's. In gewisser Hinsicht ist diese molekulare Inhärenz keineswegs die Ausnahme, nämlich soweit diese als mehr oder weniger synonym erachtet werden kann zu dem evolutionären Prinzip der Kooption. Hierbei wird eine Komponente, die in einem Kontext evoluiert ist, in einem gänzlich nichtverwandten Kontext verwendet (oder - wenn einem ein anderes Wort lieber ist: gehijackt). Die Kristalle der Augen sind das vielleicht bekannteste Beispiel nicht nur um ihrer konvergenten Verwendung, sondern weil die Reihe der Proteine, die in unzähligen unterschiedlichen Tieraugen kooptiert wurden, in Mikroben ursprünglich völlig andere Funktionen hatten, wobei sie oft mit Streßkontrolle zu tun hatten. Aber Kooption und Inhärenz sind nicht bloß unterschiedliche Seiten derselben Medaille. Man erwähne das Wort "Kooption" und die meisten evolutionären Biologen werden klug mit ihren Köpfen nicken. Doch seine Allgegenwärtigkeit wird unterschätzt. 
Man nehme doch zum Beispiel den kuriosen Fall des Kollagens, ohne den Tiere angesichts seiner zentralen Rolle als Strukturprotein nicht existieren können. Wenn auch im Vorübergehen die eindrucksvollen Beispiele seiner konvergenten Evolution in Viren (Li et al., 2004), Bakterien (Waller et al., 2005) und Pilzen (Wang & St. Leger, 2006), erwähnt seien, möchte man doch erwarten, daß Kollagen bei der Entstehung der Tiere evoluiert ist. Für einige Proteine wie jene der Hox-Familie gilt dies auch offensichtlich. Nicht aber für das Kollagen. Denn es kommt in Choanoflagellaten vor und diese sind eine Schwesterruppe der Tiere. Der spezifische Choanoflagellat allerdings, das Taxon Monosiga, ist einzellig und sein Kollagen spielt ganz klar keine strukturelle Rolle (King et al., 2008). Was also macht es? Es gibt einen Hinweis, daß es ursprünglich benutzt wurde im Signalaustausch von Zellen (Heino, 2007). Aber Kooption für ein eine solche strukturelle Rolle heißt, daß es keineswegs lächerlich ist zu sagen, daß den Choanoflagellaten unsere Achillessehne inhärent war. Und hier liegt der Unterschied zwischen Kooption und Inhärenz. Und zwar weil das letztere das erstere subsumiert aber ebenso die Implikation von hoher Wahrscheinlichkeit oder Unvermeidlichkeit hat. In anderen Worten, komplexe Formen können nicht anders als entstehen nicht nur weil es eine "Landschaft" gibt, über die die Evolution gezwungen ist zu navigieren, sondern weil viele der Teilkomponenten schon evoluiert sind.

Mit dem Begriff "Inhärenz" will Conway Morris jedoch ausdrücklich nicht auf die sogenannten Hox-Gene hinaus, also auf sehr grundlegende Entwicklungs-Gene, die heute in der Forschung sehr in Mode sind, und die mit sogenannten "tiefen Homologien" in Verbindung gebracht werden, wobei ihnen eine sehr grundlegende Bedeutung zugesprochen wird (etwa durch den Forscher Gehring). Was Conway Morris hierzu als Einwand formuliert, schwante auch dem Schreiber dieser Zeilen schon sehr dunkel, als er einstens mit diesem Thema im Biologiestudium konfrontiert war (1, S. 147):

Es gibt selten (oder gar nicht) eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen einem Entwicklungsgen und einer Struktur.

Das belegt er auch mit entsprechenden Beispielen. Für ihn ist dagegen (1, S. 148):

Inhärenz viel ehrgeiziger darin zu untersuchen, ob Evolution nicht von bestimmten Organisationsprinzipien abhängt,

also solchen, die grundlegender sind, als die Verschaltung eines bestimmten Entwicklungsgens für angeblich nur eine einzige Funktion (etwa Augen) über weite Bereiche des Artenstammbaums hinweg. Conway Morris führt hingegen Beispiele an, nach denen diese Annahme noch nicht einmal für das oft genannte Hox-Gen für Augen gilt, das gerne auch einmal ganz andere Funktionen in der Entwicklung steuern kann. - Ergänzung November 2017: Nachdem der Autor dieser Zeilen diesen Gedanken der Inhärenz länger auf sich hat wirken lassen, glaubt er ihn auch an einem noch grundlegenderen Beispiel der Evolution erläutern zu können, nämlich an der Entstehung des Lebens selbst (19).

Zu 3.: Komplexitätszunahme in Umkehr ("reversing complexity")

/ .... ist künftig hier noch zu ergänzen /

Zu 4.: Gibt es Grenzen für biologische Komplexität?

Conway Morris fragt (1, S. 150):

Können wir die Meinung vertreten, daß das Leben die Grenzen des biologischen Universums - wie auch immer definiert - schon erreicht hat? Die Schlußfolgerung wäre, daß dann der Raum zur weiteren Erforschung von Komplexität recht deutlich eingeschränkt wäre. Weil uns eine Beschreibung des biologischen Hyperraumes fehlt, ist es sehr schwierig, mehr als einige Hinweise zu geben, die auf sehr unterschiedliche Beispiele Bezug nehmen. Da aber zumindest einige dieser Beispiele - wie die Einschränkungen des Nervensystems - von sehr allgemeinen Faktoren abhängen - wie der Allometrie und des Energieverbrauchs, haben wir Vertrauen, daß unsere Schlußfolgerungen nicht völlig flügellahm daher kommen aufgrund von Umständen, die nur wenig Allgemeinheit für sich beanspruchen können.

Schon die Tatsache, daß viele Lösungen für ein bestimmtes Problem des Lebens (etwa in extremen Temperaturen in heißen Quellen zu leben) mehrmals konvergent erreicht worden sind, ist für Conway Morris dann ein erster Hinweis darauf, daß es für solche Probleme gar nicht so viele andere Lösungen gibt, daß also hierfür die Grenzen des biologisch Möglichen - wahrscheinlich - schon ausgereizt sind (1, S. 151f):

Diese Kombination aus Konvergenz und molekularer Feinabstimmung (fine-tuning) legt nahe, daß Extremophile ein brauchbares Gebiet sind, um Komplexität zu untersuchen. (...) Bakterien werden niemals in 150 Grad leben oder in einer Umgebung mit einer Wasseraktivität weniger als 0,6.

Zur Thematik Wasseraktivität siehe einmal erneut Wikipedia (s. "Aw-Wert"). Auf dem englischsprachigen Wikipedia-Artikel "Water activity" gibt es auch eine entsprechende Liste, unter welchen Bedingungen Mikroorganismen diesbezüglich leben können. Conway Morris weiter:

Vielleicht können sie es "draußen" (im Universum) oder in einigen noch nicht erforschten Regionen unseres Planeten aber wenn es sich nach und nach bestätigen sollte, dass die umschriebenen Rahmenbedingungen ("envelope") nicht zu durchbrechen sind, dann sagt uns diese Grenze etwas über die allgemeinen Begrenzungen dessen, was Leben kann und was es - noch wichtiger - nicht kann.

Weiter sagt er (1, S. 152):

Die Tatsachen legen nahe, daß - mit einer wesentlichen Ausnahme - es nicht nur eine Grenze für biologische Komplexität gibt, sondern daß die Evolution diese - analog zu den Extremophilen - auch schon so gut wie erreicht hat. (...) Meine Absicht ist es hier, ein Forschungsprogramm vorzuschlagen, daß diesbezüglich über den gegenwärtigen neodarwinischen Rahmen hinausschaut.

Als ein wesentliches Beispiel bringt er dann das Protein RuBisCO. Über dieses kann man sich wieder leicht auf Wikipedia kundig machen (Wiki). Auf dem englischsprachigen heißt es (engl.):

The inability of the enzyme to prevent the reaction with oxygen greatly reduces the photosynthetic capacity of many plants.

In der Wissenschaft ist man sich einig, daß das am häufigsten vorkommende Protein auf unserer Erde (weil es sich in allen Blättern findet für die Photosynthese) zugleich eines der am ineffektivsten arbeitenden Proteine ist. Und dennoch konnte bislang die Natur - trotz aller Bemühungen seit 3,5 Milliarden Jahren - auf diesem Gebiet nicht "verbessert" werden. Ein wesentliches Argument für Conway Morris. Schließlich kommt er zu seinem abschließenden Argument (1, S. 155):

Von allen Grenzen der Komplexität ist aber die vielleicht interessanteste jene, die die Evolution des Nervensystems betrifft. Es ist gut bekannt, daß Nervensysteme in Hinsicht auf den Energieumsatz lähmend teuer sind: die Retina der  Schmeißfliege nimmt für sich allein außergewöhnliche 8 Prozent des totalen Energieumsatzes des Insekts in Anspruch (Laughlin et. al., 1998). Ebenso gibt es eine eindrucksvolle Literatur über die vielfältigen Wege, auf denen Nervensysteme mit größter Effektivität genutzt werden können bei geringstem Verbrauch von Energie. Auf ihren unterschiedlichen Wegen macht diese deutlich, daß wie komplex Nervensysteme auch immer werden sollten, es abschließende Grenzen dessen gibt, was schlussendlich möglich ist. Das heißt nicht, daß es eine einzige Lösung gibt. Und in diesem Kontext mag man feststellen, daß obwohl Enzephalisation normalerweise verbunden ist mit Gewebe-Wärmebildung, dies offensichtlich für den Oktopus (die Krake) nicht gilt. Wenn wir jedoch die Evolution des Säugetier-Gehirns betrachten, dann scheint es - wie Hofmann (2001) gezeigt hat - endgültige Grenzen zu geben für alle weitere Größenzunahme und damit implizit auch für seine Komplexität. Zum Teil drehen sich diese Grenzen rund um die Fähigkeit eines Gehirns in Bezug darauf, daß es sich, wenn es seine Größe ständig erweitert, sich weiterhin um effektive Integration bemühen muß (...). Von gleicher Bedeutung ist, daß die unterschiedlichen Allometrien der grauen und weißen Substanz eine absolute Grenze für die Gehirngröße mit sich zu bringen scheinen, so daß es nicht mehr als um das Dreifache in seiner Größe zunehmen kann (Hofmann, 2001).
Das heißt, hier erreichen wir eine höchste Stufe der Komplexität, zumindest auf biologischer Ebene. Wir können nicht mit 65 Kilometer pro Stunde laufen (obwohl ein Spurt mit zirka 44 Kilometer pro Stunde keinesfalls vernachlässigbar ist)

(siehe dazu Wikipedia),

noch fliegen (aber ein Gin Tonic in 11,5 Kilometer Höhe hat seine Vorzüge), noch den Pazifik schwimmend durchqueren (aber der Freitauch-Rekord über eine Strecke von 243 Meter verdient gewiß eine Ehrenbezeugung). Aber wir können jeden anderen Organismus, der jemals evoluiert ist, im Denken übertrumpfen. Doch haben wir ebenfalls die Grenzen neuraler Komplexität erreicht und die Fähigkeit zu fragen - ganz abgesehen davon zu verstehen - die nächste Reihe von Fragen? Ich glaube das nicht, aber das ist, wie man so sagt, eine völlig andere Geschichte.

So die raunenden letzten Worte von Conway Morris in diesem Aufsatz. Es wird deutlich, daß es einige Hinweise gibt, daß die Evolution zu Ende ist. Aber zugleich wird deutlich, daß vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus noch keineswegs mit letzter Sicherheit gesagt werden kann, daß es tatsächlich so ist.

Ein erstes Zwischenresümee

Der von diesem Blog hoch verehrte britische Paläontologe Simon Conway Morris, der in seinem Buch von 2003 die These vertrat "Unvermeidlich Menschen in einem einsamen Universum", hat 2013 nachgelegt und einen neuen Gedanken veröffentlicht, nach dem der Mensch und andere Produkte der Evolution nicht nur unvermeidlich aus der Evolution hervorgehen, wenn sie hier auf der Erde oder anderwärts einmal angefangen hat, sondern nach dem das Leben auch gar keine größere Komplexität erreichen kann, als es hier auf der Erde schon erreicht hat. Dieser Gedanke wird 2015 im "Journal of Theoretical Biology" folgendermaßen zusammen gefaßt (3):

Er argumentiert, daß es Grenzen für die Komplexität des Lebens gibt und daß diese Grenzen schon erreicht worden sind. Er nimmt an, daß die Vorherrschaft von konvergenter Evolution indiziert, daß es ein endliches Set von Strategien gibt, die Organismen nutzen können. Wenn das Tonband des Lebens erneut abgespielt würde, würden dieselben Ergebnisse erreicht, weil die Selbstorganisation und die sich gegenseitig ausschließenden Begrenzungen in der Entwicklung es für Organismen erforderlich machen, jenen begrenzten Raum des Möglichkeiten-Raumes zu besuchen, der ihnen erreichbar ist. In seinem zweiten Argument fragt sich Conway Morris, warum einige Strukturen, die offensichtlich schlecht funktionieren, über Millionen von Jahren unverändert geblieben sind. Warum wurde Rubisco nicht über die Jahre effizienter, ein Prozeß, der seine Komplexität erhöht haben würde? In Conway Morris Sichtweise ist Evolution nicht fähig, diesen Schritt zu tun, weil das System auf seinem Höhepunkt von Komplexität angekommen ist. Diese herausfordernde Annahme ist bis heute noch nicht ausreichend überprüft worden.  
Original: He argues that there are limits to the complexity of life and that these limits have already been touched. He asserts that the prevalence of convergent evolution indicates that there is a finite set of strategies that organisms can use. If the tape of life was played again, the same results would ensue, because self-organization and the conflicting constraints in development bind organisms to visit a limited area of the possibility space otherwise available. In his second argument, Morris wonders why some structures which clearly perform poorly have remained almost unchanged for millions of years. Why has not Rubisco become more efficient over the years, a process that would likely increase its complexity? In Morris׳s view, evolution is unable to take that step, because the system has arrived at its peak complexity. This daring suggestion has not yet been properly tackled.

Auf Seiten der Philosophie kommt eine Deutung der Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde zu der intuitiv gewonnenen und durch eine einheitliche philosophische Argumentation abgestützten Erkenntnis, daß mit der Entstehung bewußten Lebens auf der Erde, also mit der Entstehung des Menschen die Kosmologie und die Evolution hier auf der Erde ihr Ziel erreicht haben und darum seither aufgehört haben, grundlegend Neues zu schaffen (6, 7). Das Weltall entstand und im Weltall entstand nach und nach größere Komplexität, weil das Ziel der Kosmologie und Evolution die Hervorbringung bewußten Lebens war. Da nur dieses Ziel erreicht werden sollte, konnte nach Erreichen dieses Zieles die Evolution zum Stillstand kommen, so die Aussage der Philosophie (6, 7).

Das war zu den Zeiten als diese intuitive, in ein philosophisches Gedankengebäude eingefügte Erkenntnis niederschrieben worden ist und noch bis vor wenigen Jahren eine - aus naturwissenschaftlicher Sicht - unglaublich kühne, waghalsige, wenn nicht ganz und gar "unseriöse" Aussage. Eine typisch "vitalistische" oder "kreationistische". Welche naturwissenschaftlichen Hinweise sollte man bis dato einer solchen philosophischen Aussage gegenüber stellen wie (7):

"Da stunden stille die Wege des Werdens auf Erden
      (...)
Nicht wurde mehr Art und Gestaltung," 
bzw. der philosophischen Aussage:
"…denn sieh', es steht still das Werden der Arten!"

nämlich mit dem Erreichen bewußten Lebens auf dieser Erde? Welche naturwissenschaftlichen Hinweise sollte man einer solchen philosophischen Aussage gegenüber stellen wie (7):

Und wir begreifen es wohl, wie unmöglich sich eine Aufwärtsentwicklung der Tiere und Pflanzen auf Erden nach der Menschwerdung mit Gottes Erhabenheit über Raum, Zeit und Kausalität vereinen läßt! (...) Nein, es bedeutet nichts anderes als ein ohnmächtiges Haftenbleiben in dem Vernunfterkennen und ein Fernsein vom Wesen Gottes, wenn wir nicht selbstverständlich erwarten, daß nach der Menschwerdung (...) aus all der nichtbewußten Tierheit, auch nicht aus den höchstentwickelten unterbewußten Tieren, eine höhere Art wurde.
Oder (20, S. 71):
In dem unermeßlichen Kosmos still kreisender Urwelten ist nach dem erreichten Schöpfungziele: dem Werden des Menschen, kein Wille zum Wandel der geschaffenen Formen der Lebewesen am Werke. Nach unerbittlichen Gesetzen verweilt die gewordene Erscheinung in der einmal geschaffenen Gestaltung. Ein Aufflammen neuen göttlichen Wollens, wie es die Schöpfungstufen boten, zeigt das vollendete Weltall nicht mehr.

Konkretere naturwissenschaftliche Hinweise, die man solchen philosophischen Aussagen hätte gegenüber stellen können, hat es bis zum Jahr 2013 - nach Kenntnis des Verfasers dieser Zeilen - nicht gegeben. Und genau 90 Jahre nach der ersten Formulierung von Seiten der Philosophie (7) legt der namhafte Paläontologe Simon Conway Morris genau für eine solche These rein naturwissenschaftliche Argumente vor. Aber man schaue genau hin. Im Leben des Simon Conway Morris war ebenso erstaunlich "früh" alles da, wie in den Organismen, die er untersucht. Denn schon in seinem 2003 veröffentlichten grundlegenden Buch "Life's Solution - Inevitable Humans in a Lonely Universe" finden sich die Worte (4, S. 301):

Die Wirklichkeit der Konvergenz bringt vier Implikationen für die Evolution mit sich, insbesondere die unausweichliche Notwendigkeit, die Themen zu überdenken der Anpassung, von Trends, des Fortschritts und (ein Gegenstand, der überraschenderweise vernachlässigt wurde): ob die Evolution zumindest lokal ihre Potentiale erschöpfen kann.

Soweit übersehbar spricht er in seinem Buch von 2003 diese letztere Implikation ansonsten gar nicht weiter an. Auf diese Implikation ist er also erst zehn Jahre später erstmals umfangreicher zu sprechen gekommen in einem Aufsatz aus dem Jahr 2013. Und dabei scheint er die Annahme längst aufgegeben zu haben, daß die Evolution nur "lokal" ihre Potentiale erschöpfen kann. (Oder meinte er mit "lokal" die Erde und die Region des Universums, in der sie angesiedelt ist?)

"Das Leben ist ebenso fein abgestimmt wie der Rest des Universums"

Simon Conway Morris hat - wie wir gerade entdecken - auch einen eigenen Internetblog "Map of Life", sowie eine Internetseite ("Map of Life"). In seinem Buch "The Runes of Evolution", das letztes Jahr erschien, schreibt er (5, S. 6):

What also emerges is the astonishing sensitivity of these (and many other) evolutionary systems. Repeatedly we find a breathtaking precision of operation, be it the operation of the Johnston’s organ (a sort of ear) of the mosquito or the infrared detector of the buprestid fire-beetle. One can make a general argument that in their different ways these sensory systems have effectively reached the limits of the physical universe, at least as far as biology is concerned.

Also auch die "atemberaubende Präzision" komplizierter Sinnesorgane von Tieren ist für ihn ein Hinweis darauf, daß diese die Grenzen des physikalischen Universums erreicht haben, zumindest soweit das etwas mit Biologie zu tun hat.

Wie deutlich geworden ist, ist der vorliegenden Blogartikel nur eine erste Sichtung dieser neuen Gedankenwelt. Sie ist in den künftigen Wochen nach und nach noch zu ergänzen und zu vervollständigen. Da aber schon mehrere Wochenenden dazu benutzt wurden, diesen Blogartikel soweit zu schreiben, soll er erst einmal in dieser Unvollständigkeit veröffentlicht werden. 

________________________________________
  1. Conway Morris, Simon: Life - The final frontier for complexity? In: C. H. Lineweaver, P. C. W. Davies, M. Ruse (eds.): Complexity and the Arrow of Time. Cambridge University Press, 2013, S. 135-162; freies pdf.: http://uberty.org/wp-content/uploads/2016/01/Charles_H._Lineweaver_Complexity.pdf
  2. Zeitschrift "Interface Focus", Theme issue ‘Are there limits to evolution?’ organized by Simon Conway Morris, Jennifer F. Hoyal Cuthill and Sylvain Gerber, 06 December 2015; volume 5, issue 6, http://rsfs.royalsocietypublishing.org/content/5/6; Einleitung hier: https://www.researchgate.net/publication/283332901_Hunting_Darwin's_Snark_Which_maps_shall_we_use
  3. Gustavo V. Barrosoa, David R. Luzb: On the limits of complexity in living forms.  In: Journal of Theoretical Biology, Volume 379, 21 August 2015, Pages 89–90, http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0022519315002143
  4. Conway Morris, Simon: Life's Solution. Inevitable Humans in a Lonely Universe. Cambridge University Press, Cambridge 2003, 2005; dt.: Jenseits der Zufalls. Wir Menschen im einsamen Universum. Berlin University Press 2008
  5. Conway Morris, Simon: The Runes of Evolution. 2015, https://www.templetonpress.org/sites/default/files/Runes_Evolution.pdf
  6. Ludendorff, Mathilde: Triumph des Unsterblichkeitwillens. Verlag Hohe Warte, Pähl 1959 (Erstauflage 1921)
  7. Ludendorff, Mathilde: Schöpfungsgeschichte. Verlag Hohe Warte, Pähl 1954 (Erstauflage 1923)
  8. Ludendorff, Mathilde: Wunder der Biologie im Lichte der Gotterkenntnis meiner Werke. - 1. Band. Stuttgart: Hohe Warte, Pähl 1950
  9. Grampp, Karl: "…denn sieh', es steht still das Werden der Arten!" - Können auch nach der Menschwerdung noch Tier- und Pflanzenarten entstehen? 9/2000, Auf: Ludendorff.info, pdf., http://ludendorff.info/Abhandlungen/Artenentstehung.pdf
  10. Gould, Stephen Jay: Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur. Deutscher Taschenbuch-Verlag (engl: Wonderful Life: The Burgess Shale and the Nature of History, 1989)
  11. Dawkins, Richard: The Ancestor's Tale. A Pilgrimage to the Dawn of Life. Phoenix Paperback, London 2005 [Erstauflage 2004]; dt: Geschichten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren. Ullstein, 2008
  12. Conway Morris, Simon (ed.): The Deep Structure of Biology. Is Convergence Sufficiently Ubiquitous to Give a Directional Signal? Tempelton Press 2008
  13. Meinecke, Erich: Paradigmenwechsel in der Biologie? In: Mensch & Maß, Folge 5, 9.3.2006
  14. Bading, Ingo: Ist die Evolution zielgerichtet? Auf: Wissen bloggt, 24.11.2011, http://www.wissenbloggt.de/?p=7742
  15. Conway Morris, Simon: If the Evolution of Intelligence is Inevitable, then What are the Metaphysical Consequences? In: The Science and Religion Dialogue - Past and Future.  Ed. by Michael Welker, Peter Lang, Frankfurt u.a. 2014, http://www.uni-heidelberg.de/fiit/aktuelle_projekte/AusgewaehltePublikationen.html
  16. Raagard, Ingrid: „Aliens sehen uns ähnlich“ - Gibt es im Weltall doch kleine, grüne Männchen? In: Bild-Zeitung, 21.7.2015, http://www.bild.de/news/mystery-themen/ausserirdische/cambridge-professor-aliens-sehen-uns-aehnlich-41719546.bild.html
  17. Leupold, Hermin: Warum ist das Weltall so wie es ist? Das Anthropische Prinzip der Kosmologie und seine philosophische Bedeutung. 3. Aufsatz der Aufsatzreihe "Die Evolution aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie". In: Die Deutsche Volkshochschule, 1989, Folge 62 
  18. Leupold, Hermin: Evolution - „Schöpfung“ oder Ablauf eines „Uhrwerkes“. Grenzen der Kausalität bei der Kristallbildung. 6. Aufsatz der Aufsatzreihe "Die Evolution aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie". In: Die Deutsche Volkshochschule, 1991, Folge 74
  19. Bading, Ingo: Inhärenz schlägt Selektion - Als zugrunde liegendes Prinzip der Evolution - Ist das Prinzip Inhärenz für die Evolution bedeutender als das Prinzip Selektion? Auf: Studium generale, 17. November 2017, http://studgendeutsch.blogspot.de/2017/11/inharenz-schlagt-selektion-als-zugrunde.html 
  20. Ludendorff, Mathilde: Selbstschöpfung. Ludendorffs Verlag, München 1941 [Der Seele Ursprung und Wesen, III. Teil] (Erstauflage 1927)

Sonntag, 19. Juni 2016

Die ersten Europäer ab 43.000 v. Ztr. starben aus - Erst die Gene ihrer Nachfolger ab 35.000 v. Ztr. hielten sich bis heute

Neue Ergebnisse der Ancient-DNA-Forschung

Die erhaltenen Genreste aus Knochen von 51 Menschen, die zwischen 43.000 und 5.000 v. Ztr. in Europa lebten, sind untersucht worden (1). Hier die wesentlichsten Forschungsergebnisse:

1. Die älteste Besiedlungswelle nach Europa hinein (um 43.000 v. Ztr.), vertreten in der Untersuchung durch einen Fund im Donauraum (im Banat in den Südkarpaten) ("Oase1") und im östlichen Rußland ("Ust’-Ishim"), hat so gut wie keine Spuren im heutigen europäischen Genpool hinterlassen. Diese Stämme sind also schon nach wenigen tausend Jahren - sowohl in Mitteleuropa wie in Rußland - wieder ausgestorben. Der in Abbildung 1 im Jahr 2017 rekonstruierte fröhliche Mensch, der vor 40.000 Jahren in den Südkarpaten lebte (Oase 1) hat also genetisch mit den heutigen Europäern nichts zu tun. Er war wohl so etwas wie eine "Pionier"-Art, die wenig später ausgestorben ist.

Abb. 1: Die Menschen von Peștera cu Oase (Rumänien, Banat), die vor 40.000 Jahren lebten, und deren Knochen 2002 gefunden wurden (Wiki)  - Herkunft: Pressebilder Neanderthal Museum, Mettmann, https://www.neanderthal.de/de/urmenschen.html, Fotograf: Daniela Hitzeman (Wiki) - Rekonstruktion geschaffen von Adrie und Alfons Kennis ("Kennis & Kennis") 2017

2. Erst eine zweite Besiedlungswelle ab 35.000 v. Ztr. hat bis heute etwas deutlicher zu den heutigen Genen der Europäer beigetragen. Hierbei handelt es sich um die archäologisch so genannte Kultur des Aurignacien (Wiki) (in der man - z.B. - schon Knochenflöten und kleine Tierfigurinen herstellte). Und es stellt sich jetzt die vielleicht nicht uninteressante Frage, ob innerhalb dieses bisherigen Aurignacien nicht ab 43.000 v. Ztr. noch die unter 1. genannte Vorgänger-Kultur unterschieden werden kann. Ist diese vielleicht das "Châtelperronien"? Der Schädel von "Oase 1" in den Südkarpaten (aus der Peștera cu Oase-Höhle in Rumänien) wurde jedoch ohne weitere Begleitfunde entdeckt (Wiki) (er enthielt ungewöhnliche 10 % Neandertaler-Gene in sich) (siehe auch: 2).

Die Stämme dieser zweiten Besiedlungswelle zeigen nun relative genetische Einheitlichkeit und Kontinuität auf bis 12.000 v. Ztr.. Nur die Stämme in Sibirien ("Mal’ta") fallen hierbei heraus, OBWOHL sie die gleiche Kultur mit Elfenbein-Venus-Figurinen aufzeigen, wie die sonstigen europäischen "Gravettien"-Stämme (!).

3. Doch auch die sich um 32.000 v. Ztr. im südlichen Europa ausbreitenden Gravettien-Stämme scheinen zwar einerseits in diese genetische Einheitlichkeit eingeordnet werden zu können, diese Kultur scheint sich aber dennoch mit genetisch anderen Menschen und Stämmen ausgebreitet zu haben als das vorhergehende Aurignacien.

4. Bisher stellen nun alle untersuchten europäischen Funde, die jünger sind als 12.000 v. Ztr. (etwa "Villabruna" in Norditalien, aber auch in Belgien, Süddeutschland, Frankreich) genetisch gesehen Stämme dar, die verwandt waren mit zeitgleich lebenden Stämmen im Nahen Osten!  Das heißt, die bis 3. genannten Stämme sind ausgestorben und ersetzt worden durch neue Stämme. Archäologisch fällt dies zusammen mit dem "Epi-Gravettien". In diesen Stämmen finden sich auch Verwandtschaften zu - - - Ostasiaten!

Diese letzteren Befunde kann man deshalb spannend finden, weil

  • a) grob ab 12.000 v. Ztr. an Oberlauf von Euphrat und Tigris in der heutigen Südtürkei der Übergang zur seßhaften Lebensweise beginnt (Göbekli Tepe),
  • b) grob zeitgleich sich begann, in Europa der Wald auszubreiten und
  • c) zeitgleich in Japan Menschen damit begannen, die erste Keramik herzustellen. Wobei es begründete Vermutungen gibt, daß sich die Keramik von dort über ganz Rußland bis in den Ostseeraum (ab 5.300 v. Ztr.) ausgebreitet hat.

/ 2016 veröffentlicht auf Google+;
hier eingestellt, überarbeitet
bebildert und ergänzt: 30.6.2019 /
__________________________________________
  1. The genetic history of Ice Age Europe. Autoren: Qiaomei Fu, Cosimo Posth[…] David Reich. In: Nature volume 534, pages 200-205 (09 June 2016), http://www.nature.com/nature/journal/v534/n7606/full/nature17993.html
  2. Bading, Ingo: 40.000 v. Ztr.: In Rumänien vermischten sich anatomisch moderne Menschen mit Neandertalern - Waren die ersten Europäer Negritos?, 14. April 2019,  https://studgendeutsch.blogspot.com/2019/04/10000-jahre-lang-lebte-ein-groes-volk.html

Samstag, 18. Juni 2016

"Damals war nichts heilig als das Schöne"

Side - Die Hauptstadt Pamphyliens
Die Stadt des Granatapfels und der Fruchtbarkeit
Die Stadt des Mondgottes Men, der Göttin Athene, des Gottes Apollon

Die Stadt Side an der Südküste der Türkei ist heute eine Hochburg des Tourismus. Auf beiden Seiten eingerahmt von riesigen hässlichen Bettenburgen, Kilometerweit aufgereiht entlang der Küste in erster, zweiter und dritter Reihe, waren der ursprüngliche Anlass für diesen Tourismus in den 1970er Jahren die anziehenden und großes Interesse weckenden Ruinen einer im Grundriss und in wichtigen Ruinen fast vollständig erhaltenen antik-griechischen Stadt, der ehemaligen Hauptstadt einer ganzen Provinz an der Südküste Kleinasiens, nämlich Sides.

Abb. 1: Kopf einer Apollon-Statue aus Side, Pamphylien (2. Jahrhundert n. Ztr.)

Im vorletzten Beitrag ("... Iß, trink und scherze - das übrige ist nicht so viel wert ...") wiesen wir schon hin auf das reichhaltige kulturelle Leben in den antikgriechischen Städten an der Südküste Kleinasiens vor 2000 Jahren. Von Side war in diesem Beitrag dabei noch gar nicht so viel die Rede. Sie soll im folgenden beispielhaft als eine solche - vielleicht ganz willkürlich gewählte - Stadt behandelt werden. Denn selbst eine so unbekannte antik-griechische Stadt wie Side, eine Stadt wie es solche vor 2000 Jahren im östlichen und westlichen Mittelmeer-Raum zu hunderten oder tausenden gab, kann - zu einiger Überraschung - mit namhaften Vertretern der antik-griechischen Kultur als Söhne dieser Stadt aufwarten. Indem man diese Namen nennt, tritt man sogleich mitten hinein in die gelebte Kultur einer solchen Stadt vor 2000 Jahren, eine gelebte Kultur, wie man sie dort vor Ort heute über hunderte von Kilometern hinweg - siehe Bettenburgen*) - gänzlich umsonst sucht.

Side war die Geburtsstadt des Bischofs Eustathios von Antiochia (290-350 n. Ztr.) (Wiki). Dieser gehörte zu den namhaften katholischen Bischöfen des römischen Reiches, die in der Zeit des Konzils von Nicäa die Arianer mit großer Schärfe bekämpften. Er gehörte also zu jenen religiösen Eiferern, die der vormaligen heidnischen Antike das Grab schaufelten. Side war auch die Geburtsstadt des siebzig Jahre später lebenden sophistischen Philosophen Troilus von Konstantinopel (390-450 n. Ztr.) (Wiki), eines Vertreters des ursprünglichen, freien Geistes der griechischen Antike. Side war die Geburtsstadt des letzten großen Rechtsgelehrte der Antike, des Justizministers unter dem oströmischen Kaiser Justinian, nämlich Flavius Tribonianus (gest. 542) (Wiki). Dieser Mensch hat maßgeblich zur Fertigstellung des berühmten "Corpus Iuris" beigetragen. Andererseits beschreibt ihn der griechische Geschichtsschreiber Prokop als "geldgierig". Tribonianus war außerdem des Heidentums verdächtig. Aber das sind alles Namen der Spätantike. Über das ebenfalls vorhandene Geistesleben und kulturelle Leben Sides vor Beginn der Spätantike, also in klassischer Zeit, ist weniger bekannt. Es darf aber nach dem Zeugnis der Hinterlassenschaften, von denen im folgenden einige aufgeführt werden sollen, als ähnlich reichhaltig angenommen werden.

Abb. 2: Reliefs vom Osttor von Side (650 v. Ztr.), ausgegraben aus den Dünen in den 1980er Jahren, heute im Museum von Side (eig. Aufn.)

Side hatte in der Antike 40.000 Einwohner, das sind etwa halb so viel wie die Einwohner der damaligen größten griechischen Stadt, nämlich Korinth. Side hatte einen Hafen, vier Tempel, zwei Marktplätze (Agoren), zwei repräsentative, mit Säulen eingerahmte Kolonadenstrassen. Die Stadt hatte ein Theater und eine Bibliothek, sowie einen Gouverneurspalast. Ihre wehrhaften Mauern hatten 13 Türme. Das bis heute ebenfalls gut erhaltene Aquädukt, das Side mit Wasser aus dem Taurus-Gebirge versorgte, war 29 Kilometer lang. Side war hunderte von Jahren der Sitz des römischen Provinz-Gouverneurs von Pamphilien. In christlicher Zeit, zwischen 300 und 1400, war es Sitz des zuständigen katholischen Bischofs. Auch die Bischöfe haben in der Spätantike zunächst noch in der ungebrochenen Bautradition der Antike gebaut, obwohl sie zu dieser Zeit die heidnischen Tempel schon zerstört hatten.

Der Spätantike waren ja auch in Side wie in so vielen ihrer Nachbarstädte, glänzende Epochen der Kulturgeschichte vorangegangen. Side hatte den Aufstieg und Fall des Großreiches der Hethiter erlebt, jenes wenig bekannten, aber sehr Pferde-liebenden Volkes, das den ersten Friedensvertrag der Weltgeschichte, nämlich mit Ägypten schloß. 

So wie nach Homer im Kampf vor Toja "tapfere Helden" aus ganz Lykien beteiligt waren, werden auch solche aus Side dabei gewesen sein (oder hätten sein können). Also Helden wie Hektor, Achill und Odysseus. Aus dieser kriegerischen Heldenzeit haben sich in Side Reliefs erhalten, die bis zum Untergang der Stadt im Eingangsbereich des Osttores der Stadt hingen und die Feinde der Stadt schrecken sollten. In diesen waren nämlich die den besiegten Feinden der Stadt abgenommenen Rüstungen und Waffen dargestellt (Abb. 2).

Side erlebte den Aufstieg und Fall erst von Athen, dann von Rom. Side versank schließlich - mit dem Fall des Römischen Reiches - in das erinneungsreiche Land des "es war einmal und ist nicht mehr". Die Stadt war also mit bewegt worden von den hethitischen Schicksalen, den athenisch-hellenischen Schicksalen und schließlich erst denen des Römischen, dann des Oströmischen Reiches. Und auch noch die Frühzeit des byzantinischen Reiches erlebte die Stadt mit. Dann ging die blühende Kultur dieser Stadt unter und die letzten Einwohner von Side zogen nach Antalya.

Abb. 3: Frauenstatue aus den Ruinen des Theaters von Side (Museum Side) (eig. Aufn.)

Schon im Jahr 650 v. Ztr. war an der Stelle des bis heute berühmten Apollontempels von Side ein Vorgängerbau errichtet worden im hethitischen Stil, von dem sich wenige Reste erhalten haben. Aus jener Zeit stammen auch die Reliefs von den erbeuteten Waffen der Feinde Sides, die bis in byzantische Zeit zusammen mit sidetischer Inschrift das Osttor der Stadt schmückten und die Feinde abschrecken sollten. Dann war Side eine Zeit lang Mitglied des delisch-attischen Seebundes unter der Vorherrschaft von Athen.

Abb. 4: Frauenstatue aus den Ruinen des Theaters von Side (Museum Side) (eig. Aufn.)

Von den reichhaltigen Kunstwerken, die in den Ruinen der Stadt bis heute gefunden werden, kann in diesem Beitrag nur ein verschwindend kleiner Teil beispielhaft gezeigt werden. Sie finden sich im Museum von Side ausgestellt, das in den wiederhergestellten Räumen einer der erhaltenen antiken Thermen der Stadt eingerichtet wurde. 

Die Ruinen dieser Stadt sagen schlichtweg dasselbe über ihre Bewohner, was die Ruinen von Pompeji und Herculaneum über die Bewohner dieser Städte sagen: Es handelte sich um schönheitstrunkene Menschen, die in einer schönheitstrunkenen Kultur gelebt haben.

Abb. 5: Eine Ecke des wieder errichteten Apollontempels in Side (eigene Aufnahme)

333 v. Ztr. brachte Alexander der Große die griechische Kultur nach Side, nachdem sich Einflüsse derselben natürlich auch schon vorher in der Stadt sichtbar gemacht hatten.

Die noch heute sichtbaren, eindrucksvollen Stadtmauern von Side sind zwischen 188 und 102 v. Ztr. unter der Herrschaft der Seleukiden in Syrien errichtet. Die Stadtmauern dienten der Abwehr der Ptolomäer in Pergamon in den Diadochenkämpfen. 

Zwischen 78 und 25 v. Ztr. wurde Side römisch. Ein Feldherr im Auftrag Roms machte in dieser Zeit jenem Piratenwesen ein Ende, das sich in Side und Coracaesium (Alanya) breit gemacht hatte als Folge eines Machtvakuums, das die Diadochenkämpfe hinterlassen hatten. Side wurde dann Sitz des römischen Provinzgouverneurs von Pamphylien.

Abb. 6: Die von Säulen eingerahmte antike Hauptstraße, die hinter dem inneren Stadttor der Stadt hier
am Theater vorbei quer durch die Stadt hinunter zum Apollontempel führte (eig. Aufn.)

Im zweiten Jahrhundert nach der Zeitrechnung wurden schließlich jene Tempel, der kaiserliche Palast, die Bibliothek und die Staatsagora, das Theater und seine Agora, die eindrucksvollen beiden Stadttore, die innere Dekoration der Stadtmauer, das 29 Kilometer lange Aquädukt, das prachtvolle Nymphäum an seinem Ende vor dem Haupttor der Stadt, die Säulen-bestandene Hauptstraße quer durch die Stadt (Abb. 6) und durch einen mit einem Pferdegespann gekrönten Triumphbogen hindurch erbaut - samt dem damit verbundenen prächtigen Figurenschmuck.

Um der Reste dieser Bauten willen wird Side von Besuchern noch heute als so eindrucksvoll und sehenswert erachtet. 

Natürlich abgesehen von seiner naturschönen Lage auf einer Halbinsel am Mittelmeer im fruchtbarsten Küstenstrichs Kleinasiens.

Abb. 7: Ausblick von der Stadtmauer auf die Bucht westlich von Side (eig. Aufn.)

Die Verehrung des Schönen war alltäglich in den Städten der Antike. Das zeigt auch diese Stadt und der Inhalt seines Museums, der den Ruinen dieser Stadt entstammt. 

Anhand insbesondere von Pompeji läßt sich aufzeigen, daß sich diese Verehrung des Schönen bis in die kleinsten Wohneinheiten der ärmsten Schichten der Stadt hinein nachverfolgen läßt

Sie alle legten wohlproportionierte Gärten in ihren Häusern an, sozusagen auch noch "in der kleinste Hütte". Sie bemalten die Wände mit Malereien, von denen schon Goethe bei seinem Besuch von Pompeji sagte, daß man eine solche Dichte wertvoller Kunstwerke selbst in Holland in der Hochzeit der dortigen Malerei in den Bürgerhäusern nicht wird angetroffen haben.

Abb. 8: Kopf einer Apollon-Statue aus Side, Pamphylien (2. Jhdt. n. Ztr.) - wie Abb. 1 - aber hier in eigener Aufnahme

Auch der erste Thermenbau entstand im zweiten Jahrhundert - die Hafen-Therme. 

Um 250 n. Ztr. wurde ein weiterer großer Thermenbau errichtet, und zwar links an der Kolonadenstraße Richtung Men-Tempel. All dies zeigt, welcher wirtschaftliche Wohlstand hier über Jahrhunderte hinweg vorgeherrscht hat.

Um 350 n. Ztr. wurde eine Stadtmauer quer durch die Stadt errichtet an der schmalsten Stelle der Halbinsel. Die Mauer wurde aus dem Bauschutt aus vormaligen Gebäuden der Stadt erreichtet. Der Triumphbogen und das Theater wurden dabei Teil der Stadtbefestigung (Abb. 9).

Abb. 9: Die Säulen-umstandene Agora mit Fortuna-Tempel in der Mitte. Dahinter das Theater, daneben das innere Stadttor, ein Triumphbogen, auf dem früher ein Pferdegespann thronte, daneben die Therme (heute Museum), im Vordergrund verfallene Bürgerhäuser
- Die reichhaltigen Ruinen von Side erstrecken sich über seine gesamte frühere Ausdehnung, also über mehrere Kilometer (eigene Aufnahme)

Um 450 n. Ztr. wurde die Therme an der Agora (Abb. 9) erbaut. Sie hat sich so gut erhalten, daß in ihr das heutige reichhaltige Museum von Side eingerichtet werden konnte.

Um 490 n. Ztr. war der Baubeginn des Bischofspalastes zwischen dem West- und Osttor der Stadt, im Außenbereich der Stadt. Es handelte sich um einen Palast, an dem bis 950 weiter gebaut wurde. Hierfür wurde sogar noch einmal eine neue, repräsentative, mit Säulen eingerahmte Straße, eine sogenannte Kolonadenstraße erbaut. 

Nun aber machte sich zunehmend christlicher Eifer unter den Menschen der Zeit breit. In der gleichen Jahren wurden die Tempel für die Götter Men, Athene und Apollon, die Wahrzeichen der Stadt auf der Spitze der Halbinsel, abgerissen und zerstört. 

An ihrer Stelle wurde - unglaublich - eine dumpfe christliche Basilika errichtet. In was für eine geistige Umnachtung müsssen die Menschen der damaligen Zeit verfallen sein, daß sie helle, lichtumflutete Tempel ersetzten durch solche Basiliken!

Was für eine vielfältige, Jahrtausende alte Geschichte. 

Die um 490 n. Ztr. abgebrannten Atriumhäuser nördlich der Agora, bei denen es sich um reiche Bürgerhäuser handelte, wurden in jener Zeit nicht mehr wieder aufgebaut. Sie blieben - bis heute - in ihrem Brandschutt liegen (Abb. 9 im Vordergrund).

Abb. 10: Abendstimmung westlich von Side (eigene Aufnahme)

Eine antike Stadt. Mit so großer, weiter Geschichte. Und noch heute rauscht das Meer - wie eh und je - an seine Gestade. An Gestade, die so helle, frei gesinnte, schönheitstrunkene Menschen über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg gesehen haben. 

Die Palmen wehen im Wind. Und die üppige Natur - samt jener Granatäpfel, die Side einst ihren Namen gegeben haben - sie treiben im Frühjahr jedes Jahr aufs Neue aus.

Im Frühjahr. 

Das heißt in dieser Region: Februar.

Bedarf es eines solchen, von der Sonne verwöhnten Klimas, um götterfrohe Menschen hervor zu bringen? 

Wie noch einmal hatte es Friedrich Schiller aufgefaßt, dieses "Blütenalter der Natur", vor dem Einzug des dumpfen, geistig ohnmächtigen, christlichen Mittelalters, in dessen Schlacken wir uns auch heute noch allerorten bewegen? ...

Die Götter Griechenlands
Da ihr noch die schöne Welt regieret,
An der Freude leichtem Gängelband
Selige Geschlechter noch geführet,
Schöne Wesen aus dem Fabelland!
Ach, da euer Wonnedienst noch glänzte,
Wie ganz anders, anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
Venus Amathusia!
(...)
Finstrer Ernst und trauriges Entsagen
War aus eurem heitern Dienst verbannt;
Glücklich sollten alle Herzen schlagen,
Denn euch war der Glückliche verwandt.
Damals war nichts heilig, als das Schöne,
Keiner Freude schämte sich der Gott,
Wo die keusch errötende Kamöne,
Wo die Grazie gebot.
Eure Tempel lachten gleich Palästen,
Euch verherrlichte das Heldenspiel
An des Isthmus kronenreichen Festen,
Und die Wagen donnerten zum Ziel.
Schön geschlungne, seelenvolle Tänze
Kreisten um den prangenden Altar,
Eure Schläfe schmückten Siegeskränze,
Kronen euer duftend Haar.
(...)
Schöne Welt, wo bist du? - Kehre wieder,
Holdes Blütenalter der Natur!
Ach, nur in dem Feenland der Lieder
Lebt noch deine fabelhafte Spur.
Ausgestorben trauert das Gefilde,
Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick,
Ach, von jenem lebenwarmen Bilde
Blieb der Schatten nur zurück.
Alle jene Blüten sind gefallen
Von des Nordes schauerlichem Wehn;
Einen zu bereichern unter Allen,
Mußte diese Götterwelt vergehn.
Traurig such' ich an dem Sternenbogen,
Dich, Selene, find' ich dort nicht mehr;
Durch die Wälder ruf' ich, durch die Wogen,
Ach! sie wiederhallen leer!
Unbewußt der Freuden, die sie schenket,
Nie entzückt von ihrer Herrlichkeit,
Nie gewahr des Geistes, der sie lenket,
Sel'ger nie durch meine Seligkeit,
Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre,
Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur.
Ja, sie kehrten heim, und alles Schöne,
Alles Hohe nahmen sie mit fort,
Alle Farben, alle Lebenstöne,
Und uns blieb nur das entseelte Wort.
                                           Friedrich Schiller
 
 
/ Vom Sprachgebrauch her 
überarbeitet: 3.2.23 /
 
 
_____________________
*) Ja, diese greulichen, scheußlichen Bettenburgen, Schandmale der Kulturlosigkeit unserer Zeit. Im leeren Zustand sind sie übrigens im Winter, also bis Februar oder März weitaus besser zu ertragen und - soweit als möglich - zu ignorieren, als wenn die moderne Massenverblödung etwa April/Mai anfängt, überraschend schnell und kräftig in diesen Gegenden Einzug zu halten. Den Typus des modernen Massenmenschen in seiner (im übrigen: wohlverdienten) Urlaubs- und Freizeit zu erleben, ist womöglich noch erschreckender, als wenn man ihn im seelenlosen Hamsterrad seiner Arbeit in der modernen Dienstleistungsgesellschaft erlebt. Dort wo jeder so tut, als wäre er "Mensch". Erst im Urlaub offenbar der Massenmensch dann sein "wahres Gesicht". (Nietzsche sind demgegenüber schon lange die Worte ausgegangen zur Charakterisierung dieses Typus von "allerletzten Menschen" ....) 
_________________
  1. Huglstad, Allan: Alanya und Umgebung. Von Antalya bis Anamur. Alanya 2008 (220 S.)
  2. Atvur, Orhan: Side. A guide to the ancient city and the Museum. 7. Auflage 2010
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